Uwe Tellkamp Uwe Tellkamp: Die «süße Krankheit Gestern» über der Elbe
Halle (Saale)/MZ. - Aber es wäre unfair, einen Roman an seinem Klappentext zu messen. Das Marketing-Deutsch folgt anderen Regeln als das Künstler-Deutsch, und um ein solches bemüht sich Uwe Tellkamp doch sehr in seinem Roman "Der Turm". Achtung, Kunst!, orgelt bereits der Vorspann, der sich "Ouvertüre" nennt. Achtung, Kunst!, tönt der Sound der Prosa vom ersten Satz an.
In der Schneekugel gefangen
Dieser hebt an: "Suchend, der Strom schien sich zu straffen in der beginnenden Nacht, seine Haut knitterte und knisterte..." Ja, "suchend" und "beginnend": Der Autor liebt den Gebrauch von Partizipien, die er wie Puderzucker tütenweise über die Zeilen kippt. Aber schon bald weht ein Wind vom Meer her, "das die Sozialistische Union umschloß, das Rote Reich, den Archipel, durchädert durchwachsen durchwuchert von den Arterien Kapillaren Venen des Stroms". So knittert und knistert, strafft und ädert Uwe Tellkamps Anspruchs-Prosa fort. Die Stadt, die hier angezeigt werden soll, heißt Dresden; der Strom, der vor ihrer Tür fließt, ist die Elbe. Man muss das eigens erwähnen, denn nach wenigen Metern Prosa sieht man den Wald vor Bäumen nicht mehr. Der Leser fühlt sich wie in einer Schneekugel gefangen. Das ist kein unangenehmes Erlebnis: Nur muss man dieses auf knapp eintausend Buchseiten hochtreiben?
Tatsächlich ist es Winter am Anfang des Romans - und dieser Einstieg ist der gelungenste Teil des Buches. Es schneit auf die Villensiedlung "Weißer Hirsch" herab, der viel beraunte "Turm". Poetisch enthemmt, lässt Uwe Tellkamp seinen Schreibstift kreisen. Ein Aroma von Operette und sentimentalischer Trivial-Dichtung wird erzeugt. Käuzchen schreien, Herzen schlagen, über der Elbe schwebt die "süße Krankheit Gestern".
Dresden also heißt der Ort, der Raum "Das Rote Reich" (vulgo: Ostblock), die Zeit spinnt sich von 1982 bis 1989 fort. Der Ostberliner Publizist Christoph Dieckmann würde es so sagen: "Die Zeit stand still, die Lebensuhren liefen". Christian Hoffmann - zu Beginn des Romans Schüler, am Ende NVA-Panzerkommandant - ist die Hauptfigur des Romans. Der musisch gestimmte Sohn eines Arztes und einer Krankenschwester schreitet den "Weißen Hirsch" aus. Der erscheint als ein Trost-Revier der uralt schönen in der realgruselig sozialistischen Welt.
Viel Bildungsgut wird kurz herbeizitiert, einiges Höherprozentiges geschluckt und seitenweise "dialogisiert": A sagt, B sagt. Viel mehr als ein rotweinseliger Opportunismus aber wird da schließlich nicht erlebbar. Traurige Kameraden allesamt: der Lektor Meno Rohde, der Physiker-Baron von Arbogast (Achtung, Ardenne!) und Christian selbst, der sich, um einen Medizinstudienplatz zu erhalten, für einen dreijährigen NVA-Dienst verpflichtet. Erstaunlich bei so viel Gegenwelt-Zauber. Aber am Ende wird sich Christian einem Einsatz gegen die Herbst-Demonstranten verweigern. Wende gut, Ende gut, fertig ist der Feuilleton-taugliche "DDR-Roman". Ist er aber nicht. Denn Tellkamp will ein phantasmagorisch aufgeladenes Gesellschaftswerk bieten, das auf einer soziologisch belastbaren Grundlage steht. Allein, das Phantastische überrennt bei Tellkamp stets das Analytische; man wird keine Aussage oder Beobachtung finden, die das DDR-Erlebnis in irgendeiner Weise aufhellt. Mehr noch: Jeder Zeitungsaufsatz über hier herbeizitierte Figuren-Vorbilder wie Peter Hacks (Eschschloraque), Franz Fühmann (der Alte vom Berge) oder eben Ardenne (Arbogast) ist welt- und problemhaltiger als die vorgelegte Variation in Prosa.
Sächsische Kunstausübung
Der Blick auf die Gesellschaft ist viel zu eng gefasst, um von einem DDR-Panorama reden zu können. Übrigens: auch zu unfrei. Es gab auch die Möglichkeit, in der DDR gegen die DDR zu leben. Ohnehin: Es fehlt dieser Prosa an Sinnlichkeit, Komik, Geisteswitz, insofern ist der Thomas-Mann-Vergleich irreführend. Es siegt das Prätentiöse, Verblasene, letzthin Aufdringliche.
Woran liegt das? Tellkamp interessiert sich nicht für die DDR, sondern für den ersten jugendlichen Eindruck, den er von dieser hatte. So haben wir es weniger mit einem DDR- als mit einem Dresden-Roman zu tun. Alles drin: der Fluss, die Stadt, deren kunststolzes Volk - und die oft verstiegenen Begriffe, die dieses Volk von sich selbst hat. Die altbekannte Dresdner Kunstausübung also. Noch immer hatte man von Westen her Sachsen mit dem Osten der Republik gleichgesetzt; dasselbe erlebt man nun mit Uwe Tellkamps Dresden-Roman.