Unsägliche Gewalt
dresden/MZ. - Der Onkel hatte nur noch einen halben Fuß, das fiel uns Kindern auf. Wir fanden es komisch, bis er uns, als wir schon älter waren, erzählte, wie er im Schützengraben vor Stalingrad lag, im bitterkalten Winter. Die Stiefel halfen nicht gegen den grimmigen Frost, und der Onkel merkte zu spät, dass in seinem Fuß kein Gefühl mehr war. Kameraden schleppten den Hilflosen aus der Gefahrenzone, er kam ins Lazarett, der erfrorene Teil des Fußes wurde amputiert. In Dresden ist in der Sonderausstellung "Stalingrad" das Exponat mit der Nummer 258 zu sehen: ein 1943 erfrorener deutscher Fuß mit in Stalingrad abgestorbener Ferse.
Schwieriges Vermächtnis
Das Deutsche Reich unter Adolf Hitler verlor den Zweiten Weltkrieg am 22. Juni 1941, dem Tag des Überfalls auf die Sowjetunion. Zwar währte der Krieg bis zum Mai 1945, aber die siegesgewissen Generäle hatten die eigenen Kräfte maßlos überschätzt. Während andere überfallene Staaten schnell eingenommen werden konnten, war das beim größten Land der Erde unmöglich. Der deutsche Hochmut rächte sich bitter und forderte unsinnige zahllose Opfer auf beiden Seiten. Ein schwieriges Vermächtnis bis heute.
Der Kampf um Stalingrad war die Wendeschlacht. Es war die Rüstungszentrale der Sowjetunion und in der deutschen Offensive, die sich in Richtung Baku und Kaukasus gabelte, wollte die Wehrmacht die Stadt im Vormarsch nehmen. Stalin war dagegen. Die seit 1925 nach ihm benannte Stadt, zuvor Zarizyn, sollte als Symbolort des Widerstands um jeden Preis gehalten werden. Weil der Diktator sogar die Evakuierung der Bevölkerung verbot, kamen im Feuersturm der Deutschen 40 000 Frauen, Männer und Kinder um, alles Zivilisten.
Die 6. Armee unter Generaloberst Paulus eroberte Straßenzug um Straßenzug, kämpfte um jedes Haus und nahm fast die Stadt ein. Aber eben nicht die ganze Stadt, ein Rest blieb in den Händen der verbissen und tapfer die Stellung haltenden Verteidiger. Als im November der Winter einsetzte, mit viel Schnee und Kälte, wurde Stalingrad zum Kessel für die Deutschen, aus dem die wenigsten von ihnen wieder herauskommen sollten. Hitler wurde die aussichtslose Lage seiner Soldaten mitgeteilt, aber er verbot die Kapitulation.
Insgesamt gab es in Stalingrad 700 000 Tote, Russen und Deutsche, Junge und Alte. Von den 230 000 Wehrmachtssoldaten überlebten nur 5 000. Diese wurden in Gefangenlager gebracht, manche blieben dort bis 1955. Generalfeldmarschall Friedrich Paulus gehörte zu den Gefangenen, er durchlief den Prozess der Entnazifizierung und wurde 1953 in die DDR entlassen. Er starb in Dresden im Februar 1957, ihm wurde kein Heldenbegräbnis zuteil.
Die Dresdner Ausstellung im von Daniel Libeskind gestalteten Militärhistorischen Museum (2011) erzählt von der unsäglichen Gewalt der Schlacht um Stalingrad. Sie ist gut dokumentiert mit Zahlen und Fakten, Fotos und schriftlichen Aufzeichnungen. Doch anrührend ist sie durch die 500 Exponate, von denen ein großer Teil aus dem Panoramamuseum Wolgograd (wie Stalingrad heute heißt) stammt. Hinterlassenschaften des Grauens. Und doch Gegenstände von Menschen.
Eine Feldflasche, rustikal und ohne Schraubverschluss. Ein deutscher Feldfernsprecher, seinerzeit ein hochmodernes Gerät. Der zerschossene Stahlhelm eines deutschen Soldaten. Viel Feldpost, Grüße von der Ostfront. Wie vom Gefreiten Wernfried Senkel, der seinen Eltern Ungeheuerliches mitteilt: "Ich habe nur einen großen Wunsch, und der wäre: Wenn diese Scheiße endlich mal ein Ende hätte." Genauer durfte er nicht werden, die Post wurde zensiert. Senkel hat die Schlacht nicht überlebt.
Flussmuschel aus dem Don
Aber es gibt auch russische Exponate, in Kisten sanft gelagert kamen sie nach Dresden. Der Fliegerhelm von Lidia Wladimirowna Litwak - hat er sie vor dem Geschützfeuer gerettet? Ein besticktes Tischtuch, eine Pralinenschachtel, ein Lampenschirm, Ringe und Amulette, ein Feldchirurgenkoffer, Schilder mit kyrillischen Aufschriften, eine Flussmuschel aus dem Don.
Hinter jedem Objekt steht ein Schicksal. Es sind trotzdem Relikte aus einer unmenschlichen Hölle, wie die Schallplatte mit dem Text von Puschkin, die gesprungen ist. Ihre Besitzer hatten sie vor ihrer Flucht vergraben, nach Rückkehr wieder ausgebuddelt, ohne sie je wieder abspielen zu können.
Der Wahnsinn des Krieges, hier ist er ausgestellt. Es gibt keinen Beleg dafür, dass jemand auf deutscher Seite stolz war, an dieser schlimmsten aller Fronten gekämpft zu haben. Nichts vom Heldenmythos Stalingrad, wie Neonazis das Sinnlose verbrämen. Auch die letzten überlebenden Veteranen des Gemetzels waren nur froh darüber, rausgekommen zu sein.
Militärhistorisches Museum Dresden: bis 30. April. Do-Di 10-18, Mo 10-21 Uhr, Mittwochs geschlossen. Eintritt: 5 / 3 Euro. Dresden, Olbrichtplatz 2.
Das Museum im Internet: www.mhmbw.de