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Umberto Eco Umberto Eco: Herz der Finsternis

Von CHRISTIAN EGER 05.10.2011, 17:43

Halle (Saale)/MZ. - Die Beine der Lügen mögen kurz sein, aber sie sind kraftvoll - und immer zur Stelle. Denn noch bevor man etwas über eine Sache weiß, hat man über diese sehr oft ein Vorurteil, das sich im schlimmsten Fall aus einer Unwahrheit speist. Und nicht jeder kann oder will den Dingen auf den Grund gehen. So ist die Lüge die Wahrheit der Faulen. Und ein Werkzeug in den Händen derer, die aus der Faulheit der Mitmenschen ihren Vorteil ziehen.

Die Weltgeschichte jedenfalls ist voll von Lügen, die ihre großen tagespolitischen Stunden hatten. Die "Konstantinische Schenkung" zum Beispiel war eine Fälschung: Eine Urkunde, in der Kaiser Konstantin I. um das Jahr 315 den Päpsten die geistliche und weltliche Herrschaft über die Westhälfte des Römischen Reiches zugesagt haben soll. Ohne dieses Papier hätte es keinen tödlichen Kampf um das Heilige Römische Reich gegeben, keinen Streit um das Einsetzungsrecht der Bischöfe, keine weltliche Herrschaft der Päpste. Hier waren handfeste Interessen im Spiel.

Genauso wie bei der Erfindung der "Protokolle der Weisen von Zion": ein 1905 in Russland veröffentlichtes antisemitisches Machwerk, das die Weltherrschaftspläne des Judentums belegen soll. Ein aus verschiedensten erztrüben belletristischen und publizistischen Quellen gespeistes Papier, dessen Zweck allein darin besteht, zur Kriminalisierung, letzthin zur Ausrottung des Judentums anzustacheln. Schritt für Schritt - sozusagen mit Namen und Adresse - ist die Verfertigung dieser Schrift als Fälschung nachgewiesen, was aber nicht davor schützt, dass dieses Hetzwerk in vielen Teilen der Erde bis heute das ist, was man einen Longseller nennt: immer wieder verkauf- und diskutierbar.

Möglich, dass das in Zukunft nicht mehr ganz so ungestört über die Bühne geht. Denn mit Umberto Eco nimmt sich erstmals ein weltweit gelesener Schriftsteller der Geschichte der "Protokolle der Weisen von Zion" an. Und auch wenn Eco als Literatur- und Kulturwissenschaftler mit allen akademischen Wassern gewaschen ist, will er als Erzähler eben nicht die universitäre, sondern die ganze Welt erreichen. Neu sind denn ja auch nicht etwa die Quellen, derer sich der 79-jährige Autor bedient, der mit "Der Name der Rose" 1980 einen Weltbestseller geliefert hatte. Neu ist allein, dass aus diesem Material ein Roman gezogen werden soll. Kein Sachbuch also, sondern etwas Fabelhaftes, das unter dem Titel "Der Friedhof in Prag" am Sonnabend in die Buchläden kommt. Denn auf dem uralten jüdischen Friedhof in Prag sollen sich vor 1900 die zwölf Väter der Stämme des Volkes Israel versammelt haben, um das Projekt der jüdischen Weltherrschaft zu verabreden: den Bau von seinerzeit angesagten Untergrundbahnen inklusive, um die Großstädte für Attentate zu untergraben. Buchstäblich ein Wahnsinnsstoff: Dem begegnet Eco mit kriminalistischer Sachlichkeit.

Was heißt: Alle Akteure des Romans sind Personen der Zeitgeschichte, nachweisbar in ihren Taten und Zitaten. Bis auf diese eine Gestalt, die die Hauptfigur des im April 1897 spielenden Romans ist: Hauptmann Simon Simonini, 67 Jahre alt, Urkundenfälscher im Haupt- und Mörder im Nebenberuf. Ein aus Italien stammender Einwohner von Paris, dessen Leidenschaft es ist, jeweils ein "Dokument zu erschaffen, das jemanden ins Verderben stürzen wird". Ein Mann, ohne soziales Leben, der seinen Sinn darin sieht, die Leben der Mitmenschen zu zerstören. "Nur der Hass wärmt das Herz", weiß Simonini, der als gebürtiger Piemonteser ein Landsmann Ecos ist. Und Simoninis Herz ist heiß von Hass.

Vor allen anderen verachtet dieser Pantoffelheld die Juden, eine Abneigung, die ihm als Kind vom Großvater eingepflanzt wurde: "Wenn du nicht brav bist und sofort schlafen gehst, kommt heute Nacht der schreckliche Mordechai zu

dir." Die antisemitische Variante vom Schwarzen Mann, der lispelnd durch die Welt zieht: "Sniff, snaff, snuffel, ich rieche Christenmuffel." Das kann Simonini nicht vergessen. So wenig wie seine Abneigung gegen: Freimaurer, Jakobiner, Jesuiten, Frauen und Deutsche ("produzieren im Durchschnitt doppelt so viel Fäkalien wie ein Franzose"). Sogar Paris ist ihm verhasst, "seit man an jeder Ecke diesen Bleistiftanspitzer von Eiffelturm in der Ferne aufragen sieht."

Eco eröffnet den Roman mit dem Gedächtnisverlust des Ich-Erzählers Simonini, der fortan im Tagebuch sein Leben zu rekonstruieren versucht. Doch vor dem Gedächtnis hatte Simonini längst den Verstand verloren. Eco schickt diesen Finsterling, der ab und an die Identität eines von ihm ermordeten Geistlichen annimmt, als Parade-Antisemiten durch das 19. Jahrhundert: Simonini treibt die Hetzkampagne gegen den französisch-jüdischen Offizier Dreyfus voran, er verfasst die "Protokolle der Weisen von Zion", die schließlich der zaristische Geheimdienst veröffentlichen will. Hoffentlich nicht "ohne schauerromantischen Hintergrund", bangt Simonini am Ende. "Niemand würde das lesen wollen."

Simonini fragt das wohl nicht von ungefähr. Denn auch bei Eco geht es niemals nur einmal wirklich romanhaft zu. Man begreift ja die Hingabe des Autors an den kulturhistorisch monströsen Stoff des europäischen Antisemitismus. Aber statt einer spannenden Fabel bietet Eco halb-journalistische, halb-akademische, halb-belletristische Textflächen, die er zu einem Professorenroman zusammenschiebt. Dessen Lektüre ist Arbeit, Arbeit, Arbeit, weil Abschnitt für Abschnitt der Fleiß seines Autors spürbar ist. Was dieser Erzieher in Gestalt eines Erzählers auch vorführt: Es hat viel intellektuelles, aber weder atmosphärisches noch sinnliches Volumen. Alles Dargestellte bleibt Strichwerk, hart an der Karikatur. Es mag ja stimmen, was Eco sagt: Dass nichts glaubwürdiger sei als die erfundene Geschichte. Unterhaltsam ist diese deshalb noch lange nicht.