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„Die Zeit, die wir teilen“ Erträumte Realitäten: Isabelle Huppert und Lars Eidinger

In ihrem neuen Film betreut Frankreichs Schauspielikone Isabelle Huppert als Verlegerin einen von Lars Eidinger gespielten Autoren. Jenseits von Sex und Büchern verbindet beide etwas Unwirkliches.

Von Gerd Roth, dpa Aktualisiert: 02.09.2022, 17:37
Joan (Isabelle Huppert) mit ihrem erwachsenen Sohn Nathan (Swann Arlaud).
Joan (Isabelle Huppert) mit ihrem erwachsenen Sohn Nathan (Swann Arlaud). -/Camino Bildverleih/dpa

Paris/Berlin - Eine Welt um Isabelle Huppert nimmt schnell surreale Züge an. Wenn die französische Schauspielerin selbstbewusst das Zentrum eines Films ausfüllt, agiert sie häufig in einer Aura rätselhafter Unnahbarkeit. Mit ihren Rollen etwa als „Elle“, „Die Klavierspielerin“ oder „Greta“ hat sie gefeierte Beispiele geliefert.

Als Joan in ihrem jüngsten Film „Die Zeit, die wir teilen“ hat die 69 Jahre alte Expertin für eigenwillige Rollen mit Lars Eidinger zudem einen Garanten für exponierte Charaktere an ihrer Seite.

Zahlreiche Auszeichnungen

„À propos de Joan“, wie der Film im französischen Original heißt, lief in diesem Jahr als Special Gala der Berlinale. Huppert wurde während der Filmfestspiele in Berlin mit dem Goldenen Ehrenbären ausgezeichnet. Preise säumen ihre Karriere: Huppert erhielt zweimal den französischen César („Biester“, „Elle“), bekam den Silbernen Bären der Berlinale („8 Frauen“), die Silberne Palme in Cannes („Violette Nozière“, „Die Klavierspielerin“), Europäische Filmpreise, den Golden Globe und eine Oscar-Nominierung jeweils für „Elle“.

Der französische Regisseur Laurent Larivière macht in seinem erst zweiten abendfüllenden Film „Die Zeit, die wir teilen“ gleich zu Beginn deutlich, dass er Hupperts Joan auf eine Reise verwobener Ebenen, wechselnder Zeiten, unklarer Realitäten schicken wird.

Die erfolgreiche Verlegerin Joan stellt sich während einer nächtlichen Autofahrt vor, scheint die Zusehenden im Kino direkt durch die Frontscheibe anzusprechen, gibt ein paar Infos zu ihrem Leben. Eine zufällige Begegnung mit ihrer Jugendliebe wird sie in ein widersprüchliches Konstrukt von Erinnerungen verwickeln.

Die Vorgeschichte der jung Verliebten lässt Larivière in Dublin spielen. Eine rasante Episode wilder Emotionen, die erst durch Gefängnis beendet wird. Joan kehrt schwanger zurück nach Frankreich, lebt mit dem kleinen Nathan (Louis Broust) bei ihren Eltern, deren Ehe ebenfalls zwischen Träumen, Scheinwelten und Realitäten scheitert.

Amour fou

All dies scheint die alleinerziehende Joan nur stärker zu machen. Als französische Verlegerin entdeckt sie den von Eidinger verkörperten deutschen Schriftsteller Till. Beide verbindet eine wunderbar erzählte Amour fou, scheinbar eher noch befeuert als gefährdet durch die Alkoholexzesse und Publikumsbeschimpfungen des Autors. Dessen Erfolge schüchtern die Verlegerin nicht ein.

Gelangweilt vom neuen Manuskript fragt sie ihn: „War das nicht in deinem letzten Roman? Und in dem Roman davor?“ Der Autor gibt sich unbeeindruckt: „Die Wiederholung ist mein Stilmittel.“ Er will lieber ihre Brüste sehen.

Ausgerechnet dieser egozentrische Stinkstiefel scheint ein Ankerpunkt in der Realität zu sein. Denn Joan verliert sich in ihren Fantasien. Der halbwüchsige Nathan (Dimitri Doré), mit dem sie in Kölner Clubs abtanzt, entspringt ebenso ihren Träumen wie der schließlich erwachsene Sohn (Swann Arlaud), den sie als Besucher im Landhaus empfängt.

Jenseits der Kindheit haben die Begegnungen Joans mit Nathan dann auch stets etwas seltsam Entrücktes. Der ältere Nathan agiert ausschließlich mit Joan, egal ob viele Menschen um Mutter und Sohn sind oder ob Joan und Till mit Nathan unterwegs zu sein scheinen. Regisseur Larivière gibt den zunächst verwirrenden Szenen erst spät die Erklärung in Form eines frühen Schicksalsschlages.

Zwischen Traum und Wirklichkeit

Doch Film und Handlung funktionieren auch weiterhin, Joans widersprüchliche Vorstellungskraft scheint beim Betrachten anzustecken. „Wir wissen, dass es eine Illusion ist, dass es Kino ist, aber wir wollen daran glauben“, wird Larivière dazu in einem Interview zitiert.

Joan wird sich selbst von ihren Ausflügen in Vergangenheit und Scheinwelten befreien, die erdachten Begleiter aus ihrem Leben fortschicken, das Landhaus mit seinen Erinnerungen verkaufen. „Du hast mein Leben gerettet“, gesteht sie ihrem eigenwilligen Autoren noch, bevor beide von einer gemeinsamen Zukunft - träumen.

Die Zeit, die wir teilen von Laurent Larivière, Deutschland, Frankreich, Irland 2022, FSK ab 12, mit Isabelle Huppert, Lars Eidinger, Freya Mavor, Swann Arlaud u.a., 101 Minuten