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TV-Kritik "Anne Will" "Anne Will": Christian Lindner und Sascha Lobo retten chaotische Digitalisierungs-Diskussion in der ARD-Themenwoche

Von Karl Doemens 31.10.2016, 05:22
Christian Lindner (l.), Sascha Lobo und Anne Will
Christian Lindner (l.), Sascha Lobo und Anne Will Screenshot ARD

Berlin - Auf den ersten Blick sieht alles aus wie immer: ein orange-braunes Studio, fünf Gäste in klobigen Ledersesseln, dazwischen die Moderatorin, die aussieht wie Anne Will. Aber ist das wirklich die 50-jährige Fernsehjournalistin? Oder lässt sie sich an diesem Abend durch einen Avatar vertreten, eine virtuelle Doppelgängerin, wie sie gerade im Tatort die Hauptfigur ermordet hat? Ein beängstigender Gedanke schießt dem Zuschauer durch den Kopf, während hinten in der Studiodekoration ein merkwürdiger Roboter erst pausenlos Pakete hebt und nachher die Spülmaschine einräumt.

Etwas ist anders bei der sonntäglichen Talkshow. Kein aktuelles Thema. Kein Ceta. Kein Rentenstreit, Keine Todesstrafe in der Türkei. Und keine Bundespräsidentendebatte. Vielleicht liegt das daran, dass Anne Will, also die echte Moderatorin, in den Herbstferien war und deswegen nichts vorbereiten konnte. Wahrscheinlich aber ist eher die Themenwoche der ARD der Grund, die sich volkspädagogisch mit der „Zukunft der Arbeit“ befasst. Also fragt Anne Will mit ehrlich interessiertem Augenaufschlag „Ist der Computer der bessere Mensch?“ und der elektronische Kollege im Hintergrund räumt das Studio auf.

Inhaltliches Chaos

Im Grunde scheint die Antwort auf die rhetorische Frage einfach. Doch nach einer halben Stunde ist man sich nicht mehr so sicher. Ganz offensichtlich hat die Redaktion der Talkshow nämlich den Begriff „Digitalisierung“ gegoogelt und lässt das Ergebnis nun bunt durcheinanderpurzeln. So jagen ferngesteuerte Krankenpfleger, Bier-Automaten, Roboterhunde im Seniorenheim und PCs in der Schule ungeordnet durch die Sendung. Alles elektronisch, alles irgendwie neu, manches utopisch, anderes längst real – aber nichts davon auch nur halbwegs systematisch aufbereitet.

Dazu passt dann auch die Gesprächsrunde, die von zwei Polen dominiert wird: Bernhard Rohleder, der Hauptgeschäftsführer des Branchenverbands Bitkom, findet den digitalen Fortschritt grundsätzlich prima, schwärmt von vielen Arbeitsplätzen und hält ethische Fragestellungen bei selbstfahrenden Autos für konstruiert. Dem Ulmer Psychiatrie-Professor Manfred Spitzer auf der anderen Seite kommt der Part des Fortschrittsskeptikers zu. Das könnte grundsätzlich interessant, weil selten und überraschend sein. Doch Spitzer ist von den vermeintlichen Gefahren des Internets derart besessen, das er missionarisch geifernd sämtliche Anstandsregeln vergisst. „Sie haben keine Ahnung von dem, was Sie reden“, ist sein Standardsatz. Smartphones und Computer regen ihn so sehr auf, dass man sich wundert, weshalb er nicht mit einer großen Axt auf die Fernsehkameras im Studio einschlägt. 

So bleiben die frisch gewählte baden-württembergische SPD-Landeschefin Leni Breymaier, FDP-Chef Christian Lindner und der Blogger Sascha Lobo als ernsthafte Diskutanten. Doch auch sie können Chancen und Risiken der Digitalisierung nur anreißen. Breymaier, ganz Verdi-Frau, konzentriert sich weitgehend auf die Auswirkungen für die Beschäftigten, warnt vor Arbeitsplatzverlust und  Entmenschlichung der Pflege, will die digitale Rendite abschöpfen und die modernen Klickworker in die Bürgerversicherung einbeziehen. „Das ist typisch für die Diskussion: Man meint den Kapitalismus und schlägt auf die Technologie ein“, analysiert Lobo ziemlich gescheit. Der Mann mit dem Irokesenschnitt steuert Praxiskenntnis bei. Er warnt gleichermaßen vor Panikmache wie Schönfärberei, indem er auf die zunehmende Differenzierung der neuen Jobs für wenige Hochqualifizierte und viele Geringverdiener hinweist.

FDP-Chef Lindner ist als Internetunternehmer schon einmal vor 15 Jahren gescheitert und fällt an diesem Abend nur einmal in die klassische FDP-Rolle zurück („Ha, Sie wollen eine neue Steuer!“). Vielleicht hinterlässt er deshalb mit einer Mischung aus Nachdenklichkeit und Zukunftsoptimismus den besten Eindruck. So warnt er, die Sendung drohe zu einem „Dokument über Ängste zu werden, über das sich die Leute in 25 Jahren amüsieren“, gesteht dann aber doch ein, dass er nicht von einem Roboter gepflegt werden möchte und für die soziale Absicherung der zahlreichen neuen Solo-Selbstständigen im Alter „keine abschließende Antwort“ hat. 

Ratlos lässt den Zuschauer auch diese Sendung zurück. Ist der Computer nun der bessere Mensch? Wohl nicht. Aber wahrscheinlich hätte ein Roboter beizeiten die Aus-Taste der Fernbedienung gedrückt. Schlauer sind die künstlichen Kollegen nämlich auf jeden Fall.