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«Tristan da Cunha» «Tristan da Cunha»: Raoul Schrotts Chronik menschlicher Sehnsüchte

Von Petra Kaminsky 02.09.2003, 20:22

Hamburg/dpa. - Alles dreht sich um eine kleine, unwirtliche Insel zwischen Afrika und Südamerika. Und zugleich dreht sich alles um das Thema Sehnsucht. Der Österreicher Raoul Schrott verwebt beides, große Gefühle und die Geschichte eines winziges Eilands, zu seinem aufwendig konstruierten Roman «Tristan da Cunha». Auf 720 Seiten breitet er die Gedankenwelten von vier Menschen aus, die in unterschiedlichen Beziehungen zu der Insel im Südatlantik stehen.

Und auch wenn Schrott formal mit historischen Fakten, Wetterdaten, Landkarten und dem Tagebuchstil arbeitet, zielt er vom Anspruch her in eine andere Richtung, ins Mythische, Philosophische: Die Insel sei «Allegorie dessen, was Welt ist», sagt der 39-Jährige. Die Erhebung im Ozean steht für einen Fixpunkt, auf den sich alle Begierden konzentrieren. Zugleich ist sie eine Welt für sich, Abbild des Großen im Kleinen.

Der Roman beginnt in der Gegenwart: Noomi Morholt, eine südafrikanische Wissenschaftlerin, ist Anfang 2003 auf dem Weg zu einem Forschungsauftrag in die Antarktis. Nach einer gescheiterten Beziehung will sie mit sich ins Reine kommen. Doch das ist schwer: «Erinnerungen sind es, die uns bestimmen. Aber man besitzt seine Vergangenheit nicht», sinniert die Forscherin. Fast ohne sonstigen Kontakt zur Außenwelt beginnt sie in der Einsamkeit des Eises eine E- Mail-Korrespondenz mit dem brasilianischen Schriftsteller Rui. Dieser schreibt ein Buch über Tristan da Cunha. Noomi wiederum ist durch einen Irrtum an eine Kiste mit Briefen und Schriften von drei Menschen gelangt, deren Leben mit dem Eiland verknüpft war.

Da ist der anglikanische Priester Edwin Heron Dodgson, der im 19. Jahrhundert die Inselbewohner missionieren sollte. Er berichtet seinem Bruder, dem Schriftsteller Lewis Carrol («Alice im Wunderland»), von seiner inneren Zerrissenheit: Auf Tristan hat er sich in ein Mädchen verliebt, und die Eifersucht treibt traurige Blüten. Außerdem enthält die Kiste die Aufzeichnungen des Engländers Christian Reval, der im Zweiten Weltkrieg als Funker auf Tristan war. Er lernte dort sein große Liebe kennen. Doch auch obwohl beide ein Kind bekommen, heiratet Reval eine andere. Mit dieser stirbt der Kartograf in einem Eissturm auf der nahen Insel Gough.

Die vierte Hauptperson ist der Briefmarkensammler Mark Thompson. Seine Beziehung zu Tristan da Cunha entwickelt sich über die Philatelie. Auf vielen Bögen ordnet er mit Hilfe von Marken die Geschichte der Insel und ihrer Bewohner. Während er seiner Sammelleidenschaft nachgeht und die Marken zum Medium seiner Weltsicht erhebt, verliert er im realen Leben die Liebe seiner Frau. Das Fernweh nach der exotischen Insel entspricht dem Sehnen nach Frau und Tochter.

Die Erzählgeschwindigkeit wechselt angesichts von vier Ich- Erzählern aus unterschiedlichen Zeiten ebenso wie die Perspektiven. Eine Geschichte, die von Christian Reval, wird sogar vom Ende her berichtet. Sie entwickelt sich vom letzten Brief kurz vor dem Tod aus in ein kompliziertes Leben hinein. Das ist ein teilweise sperriger Stoff, für manchen sicher zu sperrig. Aber zugleich hat die Erzählkunst Schrotts, die Intensität der Auseinandersetzung der Menschen mit sich und ihrer Umwelt etwas Faszinierendes. Der Leser wird abwechselnd hineingezogen in das Buch und wieder herausgespült.

Zum Hinausspülen tragen die regelmäßigen Unterbrechungen bei: Außer dass die vier Berichte sich abwechseln, gibt es noch zahlreiche andere Schnitte im Erzählfluss. Zum Beispiel gedichtartige, halbseitige Einschübe, die mit dem Wort «im» beginnen: «Im Stillen des Tages...» oder «Im Sturm war auch eine Mitte...». Trotzdem gelingt es dem Sprachwissenschaftler und Autor Schrott, der heute in Irland lebt, immer wieder, Spannung zu erzeugen. Die Frage, ob einer seiner Protagonisten die Folge von enttäuschten Sehnsüchten unterbrechen kann, treibt den Leser voran.

Raoul Schrott: Tristan da Cunha oder die Hälfte der Erde. Roman Carl Hanser Verlag, München, Wien 720 Seiten, Euro 25,90 ISBN 3-446-20355-9