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Thomaner-Jubiläum Thomaner-Jubiläum: Unterwegs mit Friedu

Von iris stein 09.03.2012, 17:31

Halle (Saale)/MZ. - Friedu ist "dispi". Deshalb hat er in diesen Wochen etwas mehr Zeit als gewöhnlich. Dass das eine sehr relative Aussage ist, merkt jeder, der diese Zeit mit dem Thomaner verbringen möchte. Friedrich Praetorius - so sein korrekter Name - ist seit mehr als vier Jahren Chorsänger. Einen Nachmittag lang begleiten wir ihn.

Was aber ist eigentlich "dispi"? Das bedeutet, dass der Thomaner dispensiert - freigestellt - ist, weil er zur Zeit nicht bei Auftritten singen kann - der Stimmbruch lässt es nicht zu. Ein volles Programm wartet dennoch auf ihn. 14.30 Uhr treffen wir uns, da hat der 15-Jährige Schulunterricht und Mittagspause schon hinter sich.

Seit der Gründung des Chors vor 800 Jahren sind die Sänger in einem Alumnat untergebracht. Alumni, das ist das lateinische Wort für Zöglinge. Auch heute noch wohnen sie so, doch moderne Zeiten erfordern moderne Unterkünfte und so wird das Alumnat derzeit umfassend renoviert und umgebaut. Die über 90 Jungen sind schon seit gut einem Jahr in einem Containerbau direkt gegenüber untergebracht. Noch ein weiteres Jahr müssen sie aushalten in ihren Wohneinheiten, zu denen mehrere Schlafräume und ein Gemeinschaftszimmer mit Arbeitsplätzen gehören, dann ziehen sie zurück in den ehrwürdigen Prachtbau auf der anderen Straßenseite, den sie nur "Kasten" nennen. Jetzt müssen schnell die Schulsachen aufs Zimmer. Friedu hält die Tür auf, Schüler, die dem Besucher begegnen, grüßen. Es ist quirlig und lebendig, aber nicht lärmig oder hektisch. Niemand schreit. Wer in Schulen oder Horten unterwegs ist, erlebt oft anderes.

Schwungvoll fliegt die Tasche in die Ecke. Sein Zimmer teilt sich Friedu mit dem 15-jährigen Max und dem 16-jährigen Adrian und es ist mit drei Betten und drei Schränken spartanisch eingerichtet. Er setzt sich aufs Bett, holt die Gitarre heraus und klimpert ein paar Minuten vor sich hin. Natürlich klimpert er nicht vor sich hin, denn dass er das Instrument wirklich spielen kann, wird auch dem Laien schon nach ein paar Takten klar. Doch für Friedu ist das "klimpern". Das Spielen hat ihm sein Vater beigebracht.

Nur wenige Augenblicke hat er Zeit, dann steht Gesangsunterricht auf dem Plan. Dazu muss er hinaus auf die Straße und dann wieder hinein in die Villa Thomana nebenan. Dort klingt es und schallt es, denn hier werden Klavierunterricht gegeben und Stimmbildung trainiert - in Einzelstunden. Bei Gesangslehrer Stephan Heinemann herrscht reges Kommen und Gehen. Verlässt ein Schüler das kleine Zimmer mit dem großen Flügel, gibt er dem nachfolgenden die Klinke in die Hand. Nun also Friedu. Konzentriertes Atmen, leises Zischen, Summen, dann die ersten Töne. Sie gelingen nicht sonderlich gut, Stimmbruch und eine kleine Erkältung lassen nichts Besseres zu. "Verkürzte Umfänge" nennt Stephan Heinemann, selbst gestandener und gefragter Solosänger, das, was Friedu zur Zeit möglich ist. Der junge Gesangslehrer sieht seinen Schüler auf dem Weg zum Tenor. "Doch bis die Stimme ausgereift ist", erklärt er, "dauert es bis zum 18. / 19. Lebensjahr."

Friedu singt Töne an, Akkorde, Liedzeilen. Auch wenn er zur Zeit nicht mit dem Chor auftritt, wird die Stimme trainiert. Der Gesangslehrer greift immer wieder ein, korrigiert, ermuntert. Als es gar nicht mehr weitergeht, nimmt er den Jungen an den Händen, verlangt, dass dieser sich zurücklehnt. "Mehr", fordert Stephan Heinemann. Und dann kommen die Töne. Der Laie staunt und der Fachmann lacht. "Er ist abgelenkt", erklärt er, "konzentriert sich weniger auf das, was nicht klappt, sondern darauf, dass er nicht umfällt." Friedu bewundert seinen Lehrer. "Er singt toll", sagt er und: "Ich bin froh, ihn zu haben." Schnell ist die halbe Stunde vergangen, jetzt geht es ans Klavier. Friedu muss üben. Allein. Dass er das diszipliniert auch tut, ist für ihn eine Selbstverständlichkeit. Nicht alle Chorschüler können das. Da locken Freunde, Freizeit, da ist die Schule - alle Thomaner gehen ins angeschlossene Gymnasium. Wer das nicht schafft, muss auch den Chor verlassen. Friedu hat Freude am Üben. Und außerdem in wenigen Stunden eine wichtige Prüfung. Da will er eine gute Note erreichen. Also setzt er sich jetzt ans Klavier und legt los. Meist ohne Noten. Die Töne perlen nur so unter seinen Fingern hervor, konzentriert spielt er Stück um Stück. Ein paar Takte "Träumerei" blitzen hervor, etwas Rachmaninow. Nicht alles vom Blatt - Friedu improvisiert mit Vergnügen. Minute um Minute verrinnt, keine Pause, keine Ablenkung.

Wer sich mit und über Thomaner unterhält, hört immer wieder, dass sie ganz normale Jungs seien. Genau das sind sie nicht. Schon von früher Kindheit an bestimmt Musik ihr Leben. Friedu kam aus Wittenberg ins Alumnat. "Es war für mich nicht so schwer wie für andere", erzählt er, "mein großer Bruder war damals noch hier." Weil er den öfter besucht und schon andere Chorsänger kennengelernt hatte, wartete schon ein Freund auf ihn, als er mit der 5. Klasse nach Leipzig wechselte. Doch Heimweh hat er auch manchmal gehabt. "Und manche werden damit nur schwer fertig", sagt er. Erleichtert wird der Alltag durch die Gemeinschaft. Die erfordert und formt zugleich eine hohe soziale Kompetenz. Verantwortung zu übernehmen, sich zu helfen, zusammenzuhalten - das ist "ein Rüstzeug jenseits der Musik fürs ganze Leben", sagt der Geschäftsführer des Thomanerchores Stefan Altner.

Jeder Zehnjährige hat einen 18-Jährigen an seiner Seite, der Große gibt seine Erfahrungen weiter. Wöchentlich tritt der Chor auf, einmal im Jahr geht es für jeden Chorschüler auf Reisen - nach Japan, in die USA, Großbritannien, Australien, Hongkong - das gibt Souveränität. Die hohe künstlerische Qualität des Chores ist nur zu haben, wenn höchste Ansprüche an die Ausbildung gestellt werden. Wenn Friedu nicht mehr "dispi" ist, sind es wieder zwei Stunden am Tag allein Chorprobe. Drill? "Nein", sagt er, "das ist kein Drill." Der Chor muss perfekt sein, das will jeder Sänger.

Friedrich Praetorius kommt aus einem musikalischen Elternhaus. Sein Vater Wolfgang war Solo-Cellist im Wittenberger Orchester, unterrichtet heute an der Musikschule. Friedus Leben ist Musik. Die h-Moll-Messe von Bach nennt er sein Lieblingsstück, "das Kyrie", betont er. Keine Proben wegen des Stimmbruchs - das fand er nur kurze Zeit schön. "Ich habe jetzt so viel Freizeit, dass ich ausrasten könnte vor Langeweile", meint er, und kann nicht verstehen, dass Außenstehende seinen Terminkalender egentlich prall gefüllt finden. Und später? "Dirigent", sagt er ganz selbstverständlich. "Ich bin ein Typ, der anführt, das weiß ich", gibt er sachlich über sich Auskunft. "Und ein Orchester und Sänger führen - das ist etwas Besonderes, das würde ich gern schaffen." Genau deshalb ist er auch jetzt wieder konzentriert bei der Sache, als es zum Klavierunterricht bei Simone Weißenfels geht. Sie hält ihn für einen ihrer besseren Schüler, scherzt sie. Das Präludium g-Moll von Rachmaninow erklingt, Takt um Takt gehen Lehrerin und Schüler durch. Keine Zeit für einen Gedanken an Fußball, Tischtennis oder Frisbee im Park - die bevorzugten Hobbys des Teenagers. Die Prüfung ist wichtig und Simone Weißenfels eine strenge Lehrerin. Sie fordert, lobt, verlangt, dass sich ihr Schüler die Töne vorstellt. "Dann kommen sie auch", sagt sie.

Es ist inzwischen 18 Uhr geworden. Am nächsten Tag wird Friedu zwei wichtige Arbeiten in Biologie und Physik schreiben. Dafür müsste er eigentlich noch lernen. Doch erst kommt noch die Klavierprüfung. Er hat die Eins geschafft.