"The Circle" von Dave Eggers "The Circle" von Dave Eggers : Gehirnwäsche für die totale Überwachung

Gestern bekam ich Post. Sie kündigte sich nicht mit Pling oder dem Geräusch eines fallenden Wassertropfens an. Es war ein Brief auf Papier, per Hand eingeworfen in den Briefkasten im Hausflur. Darin wurde mir mitgeteilt, dass ab sofort und in Zukunft die Steuererklärung elektronisch zu übermitteln sei.
Ist es ab jetzt illegal, keinen PC, keinen E-Mail-Account zu haben oder nicht Digitalisch sprechen zu können? Abgesehen davon, dass ich seit längerem nicht verstehe, wieso ich noch etwas erklären soll, wenn „die“ doch ohnehin alles über mein Konto, meine Krankheiten, meinen Konsum wissen: dürfen Hinterwäldler, die wie ich zu blöd zum Downloaden sind, jetzt nicht mehr an der gesellschaftlichen Steuereinziehungslotterie teilhaben?
Keine Geheimnisse, keine Sünde
Im Paradies des vollendeten „Circle“ sind persönlich ausgefüllte Steuererklärungsformulare bestimmt überflüssig. Wie die dazugehörige Behörde und der ganze Staatsapparat letztlich gleich mit. Im „Circle“ hat jeder einen Pflicht-Account, über den alle in Ziffern übersetzbaren gesellschaftlichen Aktivitäten des menschlichen Lebens abgewickelt werden, miteinander verknüpft und ordentlich gespeichert sind.
Der „Circle“, also der Kreis, heißt der neue, am 14. August in deutschen Buchläden erhältliche Roman des amerikanischen Schriftstellers Dave Eggers. Und weil dieser Science Fiction Roman so nah an der Realität der Viererbande von Google, Facebook, Amazon und Apple ist, wird er bereits seit seinem Erscheinen in den USA im letzten Herbst als Nachfolger von Orwells „1984“ und als Big-Brother-Vision auf der Höhe unserer Zeit gefeiert.
Eigentlich fängt es mit dem Grauen sehr vernünftig an: Der amerikanische Internetgigant „Der Circle“ entwickelt ein Programm, das mit dem Wust an vielerlei digitalen Identitäten, Chipkarten und lästigen Passwörtern aufräumt. Bei „ TruYou“ ist jeder mit Klarnamen, Geburtsurkunde, Bankkonto, Krankengeschichte, Sozialversicherungs- und Steuernummer erfasst, Anonymität ist abgeschafft und damit im Prinzip alle Betrugsmöglichkeiten. Wenn alles transparent ist, gibt’s keine Verbrechen mehr. Logisch?
Statt fehlbaren Polizisten fahnden nun unbestechliche Rechner nach Steuerbetrügern, Computer nach Kinderpornografen, Algorithmen nach potenziellen Terroristen. „Wahnsinn, dachte Mae. Ich bin im Himmel“. So fängt der über 550 Seiten dicke Roman an und schnell ist klar, wie dieser Himmel funktioniert. Mae Holland, eine unbedarfte junge Frau aus einem Provinzkaff, hat das Glück, einen der begehrten Jobs beim Circle zu bekommen. Auf dem Firmengelände gibt es Minigolf und Friseur, Wellnessoasen, Gesundheitsvorsorge, Themenparties, kalorienarmer aber höherprozentiger Riesling, Barbecues und 24 Stunden geöffnete vegetarische Buffets, alles gratis für die 12.000 Mitarbeiter.
Mae fängt wie alle Neulinge im Kundenservice an, einem Callcenter im Großraumbüro, wo sie bald an einem halben Dutzend Monitoren gleichzeitig kommuniziert und super Ratings erhält. Denn jede Leistung wird sofort auf einer Skala von 1 bis 100 beurteilt. „War ich gut?“, fragt selbst der mit vorzeitiger Ejakulation gestrafte Kollege. 100 pro!
Anfangs hat Mae noch einen Rest Privatleben, sie besucht ihre Eltern in der Außenwelt, guckt Fernsehen mit ihrem MS-kranken Vater, streitet sich dort mit ihrem Exfreund, einem frühverfettenden Kerl, der Kronleuchter aus Hirschgeweihen baut und sich den Segnungen des Netzes verweigert. Sie hat Sex mit einem geheimnisvollen Typen, den sie auf dem Circle-Campus vor dem Klo getroffen hat. Und sie geht allein in der Bucht von San Francisco paddeln.
Allein? Ohne das ihren Freunden und Followern mitzuteilen in Postings, Fotos, Zings? Das ist asozial! Im Weltverbesserungssystem des alle umfassenden Circle herrscht Partizipationszwang.
Nachdem ihr nächtlicher Ausflug mit einem „geborgten“ Kajak durch die inzwischen fast überall allgegenwärtigen lolligroßen Webkameras aufgedeckt wird, unterwirft sich die zuwendungsbedürftige (wäre sie nicht so strunznaiv, würde man meinen: karrieregeile) Mae der Gehirnwäsche des gönnerhaften Circle Bosses. Stolz wie ein auserwähltes Dschungelcampschlachthuhn willigt sie in absolute Transparenz, heißt Totalüberwachung ein. In einer öffentlichen Selbstkritikshow steigt Mae zum gläsernen Vorzeigegesicht des Unternehmens auf. Neben den Armbändern zur Erfassung ihrer Körper- und Kommunikationsdatenströme trägt sie nun eine Kamera um den Hals, die alles, was sie sieht, sagt und tut, in Echtzeit ins Netz überträgt und von Abermillionen „Viewern“ „geteilt“ wird.
Mit Parolen wie „Sharing is caring“ (Teilen ist heilen), „Geheimnisse sind Lügen“ und „Alles Private ist Diebstahl“ bringt Mae das System der freiwilligen Freiheitsaufgabe auf den Punkt. Leider ist auch Schluss mit heimlichem Sex. Im Paradies gibt’s keine Sünde.
Alptraum einer Weltdiktatur ohne Grenzen
Die gar nicht so futuristische Utopie der totalen Kontrolle durch einen Internetmonopolisten macht den Staat überflüssig. Das schreiben laut einer tollen Reportage der aktuellen Zeit auch der Google Verwaltungsschef Eric Schmidt und seine Thinktanker Jared Cohen in ihrem Manifest „Die Vernetzung der Welt“. Demnach sind die Probleme unserer Welt nicht mehr durch Politik, sondern nur durch Technologie zu lösen. Und wer verkauft sie uns? Genau.
Das macht Eggers Alptraum einer Weltdiktatur ohne Grenzen, ohne Territorium so „unheimlich wahr“ und bezwingend. Dass seine Figuren platte Schablonen sind, die Dialoge hölzern, die Handlungsdramaturgie allzu simpel und vorhersehbar ist – geschenkt. Um schöne Literatur geht es Eggers nicht. Immer – abgesehen vielleicht von seinem autobiografischen Debüterfolg („Ein herzzerreißendes Werk von umwerfender Genialität“ 2001) – wenngleich nicht immer so formal schlicht und didaktisch durchschaubar, waren Eggers dokufiktionale Romane als linksliberale Gesellschaftskritik gemeint, die den Leser zu tätigem Widerstand aufrütteln sollten. Na denn: Ein erster Schritt dazu ist das Lesen auf Papier: es hinterlässt keinerlei Abdruck in der digitalen Speichertyrannei.
Dave Eggers: The Circle. Aus dem Amerikanischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2014. 558 S., 22,99 Euro.