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Stadtmuseum Naumburg Stadtmuseum Naumburg: Erwin Müller ist ein Vertreter der Neuen Sachlichkeit und ein Genie der Alltagsmotive

07.11.2016, 10:50
Erwin Müller: „Greislerin“ (1926)
Erwin Müller: „Greislerin“ (1926) Jaroslav Trojan/Regionalgalerie Liberec/CZ

naumburg - Er schaut den Betrachter durch die runden Gläser seiner Hornbrille ebenso fragend wie skeptisch an. Das Haar ist ordentlich gescheitelt, der kleine Schnauzbart keck gestutzt. Über dem Anzug mit Weste einen Malerkittel tragend, steht der Künstler, die Palette in der einen und den Pinsel in der anderen Hand, vor einer noch leeren Leinwand: So hat sich Erwin Müller selbst gesehen.

Der vergessene Künstler der Neuen Sachlichkeit

Vor genau 90 Jahren entstand dieses Selbstbildnis in seinem Atelier in Reichenberg, dem heutigen Liberec in Tschechien. Jetzt ist das Gemälde in einer bemerkenswerten Ausstellung zu sehen, die das Stadtmuseum Naumburg dem vollkommen vergessenen Maler noch bis zum 12. November widmet.

In der Domstadt hat der Künstler 32 Jahre gelebt. Nach der Vertreibung aus dem Sudetenland 1945 kam der Deutschböhme an die Saale. Dort ist er 1978 gestorben. Kein Mensch dürfte hier je geahnt haben, dass mit Erwin Müller ein bedeutender Vertreter jener Malerei in Naumburg lebte, die als Neue Sachlichkeit in den 20er und 30er Jahren für Furore sorgte.

Die politischen Umstände in der SBZ und DDR mögen ebenso dafür gesorgt haben, dass Müller sich aus der Öffentlichkeit zurückzog wie sein „verschlossenes Naturell“.

Diese Eigenschaft attestiert ihm Anna Habánóva, Mitarbeiterin der Regionalgalerie Liberec und Kuratorin der Schau, im Katalog. Sie bezieht sich auf den Kunstkritiker Oskar Fürstenau, der bei Gelegenheit einer Müller-Ausstellung, die 1925 in Reichenberg gezeigt wurde, auch „die spröde Eigenart des Künstlers“ nicht unerwähnt ließ.

80 Gemälde Erwin Müllers haben überlebt

Neben Aquarellen und Holzschnitten haben 80 Gemälde Erwin Müllers die widrigen Zeitläufe des 20. Jahrhunderts wie durch ein Wunder überdauert. In den 60er und 70er Jahren liefen Müllers Arbeiten in der Tschechoslowakei Gefahr, vernichtet zu werden. Weil das zum Glück ausblieb, kann die Galerie im Schlösschen eine klug komponierte Auswahl von Müllers Werken aus dem Bestand der Regionalgalerie Liberec zeigen.

Nach expressiven Anfängen, für die in der Schau unter anderem das Bild „Rufer in der Wüste“ und das in düsteren Grün- und Blautönen gehaltene Monumentalgemälde „Niobe“ beispielhaft stehen, fand Müller Mitte der 20er Jahre zur Neuen Sachlichkeit: Die Palette hellt sich auf und statt der biblischen und mythologischen Themen seiner Frühphase widmet sich Müller der Landschaft um Reichenberg, städtischen und ländlichen Genre-Szenen und Porträts. Die Menschen auf seinen Bildern hat er gern im Profil festgehalten.

Alltagskunst: Das Porträt der mürrisch dreinblickenden Krämerin

So auch die „Greislerin“ auf dem gleichnamigen Bild von 1926. Die berührende Szenerie zeigt eine mürrisch dreinblickende Krämerin, die im Begriff ist, Bonbons für zwei Kinder abzuwiegen, die gerade so groß sind, um über den Ladentisch schauen zu können.

Dem Tun der Frau folgen beide mit großen Augen. Die Münzen für die ersehnte Süßigkeit haben die Steppkes abgezählt und auf der Theke ausgebreitet. Dieses Bild betrachtend, wird klar, warum die Kuratorin Erwin Müller „ein vergessenes Genie der Alltagsmotive“ nennt.

Die Inspiration für das Gemälde „Der Dorfarzt“ von 1927 könnte, so Habánóva, Müllers Bruder Ferdinand geliefert haben, der als Landarzt in Böhmen unterwegs war. Die Szene, die uns einen Mediziner in schwarzem Mantel und mit weit aufgerissenen Augen zeigt, hat etwas Biblisches.

Die linke Hand auf den Körper des kranken Kindes gelegt, die rechte aber erhoben, scheint es, als wolle der Arzt - statt den Angehörigen mit ihren entsetzten Gesichtern eine schlimme Diagnose zu verkünden - mit Jesus ausrufen: „Stehe auf und wandle!“

Ein Blick mit Humor auf die Mitmenschen der Zeit

Für alle Arbeiten aus Müllers neusachlichen Werkphase gilt, was Oskar Fürstenau bereits 1925 erkannte: „Die Mitmenschen betrachtet er (Müller) mit jenem Humor, der nicht verächtlich oder verletzend wirken, der nicht lächerlich machen, der vielmehr nach seiner Art in den Schwächen Merkmale des Lebens schildern will.“

In der Ausstellung finden sich auch zwei Porträtfotos Erwin Müllers aus den Jahren 1947 und 1959. Mag er auch älter geworden sein, der fragend-skeptische Blick hinter großen runden Brillengläsern erinnert immer noch an das Reichenberger Selbstporträt, das er im Jahr 1926 von sich malte.

Galerie im Schlösschen Naumburg, Markt 6, bis 12. November, Di-So 10-17 Uhr. Der Katalog kostet 15 Euro.

(mz)

1926 entstand Erwin Müllers „Selbstbildnis“, im Jahr darauf das Gemälde „Der Dorfarzt“.
1926 entstand Erwin Müllers „Selbstbildnis“, im Jahr darauf das Gemälde „Der Dorfarzt“.
Jaroslav Trojan/Regionalgalerie Liberec/C
1926 entstand Erwin Müllers „Selbstbildnis“, im Jahr darauf das Gemälde „Der Dorfarzt“.
1926 entstand Erwin Müllers „Selbstbildnis“, im Jahr darauf das Gemälde „Der Dorfarzt“.
Jaroslav Trojan/Regionalgalerie Liberec/C
Erwin Müller, 1959
Erwin Müller, 1959
SMN