Sozialpsychologe Harald Welzer im Interview Sozialpsychologe Harald Welzer im Interview: "Einfach mal Löcher in die Luft starren!"

Köln - Professor Welzer, kaum waren die Pegida-Parolen gegen die „Lügenpresse“ etwas leiser geworden, kam nach dem Absturz von Flug 4U 9525 der nächste öffentliche Aufschrei gegen den „Schund-Journalismus“. Was ist los im Verhältnis zwischen den Medien und ihrem Publikum?
Vielleicht haben wir es mit einer Art Hysterisierungsschleife zu tun. Die Medien machen aus Pseudo- oder Nullinformationen Nachrichten, wie unmittelbar nach dem Absturz. Die Abnehmer steigern gelegentliche Fehlleistungen zum Generalverdacht. Und das Internet wirkt mit all seinen Verschwörungsforen als Hysterieverstärker. Zum Glück aber beziehen die meisten Deutschen ihre Informationen ja nach wie vor aus dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk und den etablierten Zeitungen.
Harald Welzer, geboren 1958, ist Soziologe und Sozialpsychologe. Er ist Honorarprofessor an der Europa-Universität Flensburg und lehrt in St. Gallen.
Seit 2012 ist Welzer Direktor der von ihm mitbegründeten Stiftung „Futurzwei“,
die „Visionen von besseren,
gerechteren und glücklicheren Lebensstilen“ entwickeln will.
Sein neues Buch „Autonomie. Eine Verteidigung“ (mit Michael Pauen),
erscheint am 23.4.,
S. Fischer
336 Seiten, 19,99 Euro
Das Vertrauen ist noch da, aber die Basis erodiert?
War das schon mal anders? Als der Regisseur Helmut Dietl Ende März verstarb, sah man doch all diese schmierigen, abgehalfterten Typen aus seinen Filmen wieder, die schon früher den „windigen Journalismus“ verkörperten. Und die Bild-Zeitung galt von jeher als schmuddelig, dem Bürgertum wie der Studentenbewegung. Ich glaube, das eigentliche Problem ist ein anderes.
„Inzwischen wird kaum mehr unterschieden“
Nämlich welches?
Dass die wenigsten Mediennutzer wirklich wissen, wie Medien funktionieren und was Journalisten – jenseits von Klischees – eigentlich tun: Was genau ist Recherchieren? Wie ist das Verhältnis zu Informanten? Was bedeuten bestimmte Sprachregelungen? Das alles ist in der Vorstellung der Öffentlichkeit diffus. Mit der Folge, dass inzwischen kaum mehr unterschieden wird zwischen sorgfältig verfassten Beiträgen in Qualitätsmedien und völligem Quatsch, den irgendjemand durchs Internet pustet.
Das kommt vor. Aber wie ist es mit dem – vielleicht sogar berechtigten – Ärger von Experten, wenn „die Journalisten“ offenkundig weniger gut Bescheid wissen als sie selbst?
Das ist ein Problem, das sich bei allen lebensweltlichen Themen stellt. Niemand sagt einem Astrophysiker: „Mit Sternen kenne ich mich mindestens so gut aus wie du.“ Aber über die Gesellschaft oder über die Politik glaubt sich jeder ebenso kompetent äußern zu können wie Soziologen oder Politikwissenschaftler. Ein noch besseres Beispiel ist der Sport: Der Kommentator des Länderspiels hat doch nach Ansicht der allermeisten Zuschauer von Fußball keine Ahnung.
Erklären sich Angriffe auf die Medien womöglich als Weigerung, sie als „vierte Gewalt“ im Gegenüber zum Staat oder zur Wirtschaft zu akzeptieren, und sie stattdessen als „Teil des Systems“ zu brandmarken?
Die Demokratie hat insgesamt das Problem bekommen, dass Menschen sich nicht mehr als Teil eines politischen Gemeinwesens empfinden, zu dem sie – zumindest der Idee nach – gleichwertig etwas beizutragen hätten. Vielmehr gibt es in ihrer Wahrnehmung „uns da unten“ und demgegenüber „die da oben“. Daraus resultieren die Fantasien, dass alles über unsere Köpfe hinweg geschieht. Bei „denen da oben“ werden dann eben auch die Medien einsortiert. Das steckt, glaube ich, in der Tiefe hinter dem Aufbegehren gegen die „Lügenpresse“.
Sie liefern doch selbst Stoff dafür, wenn Sie in Ihrem neuen Buch vor dem totalitären Zugriff der Internet-Riesen warnen.
Zumindest lautet ein Tenor der ersten Reaktionen, „gut, dass das mal jemand ausspricht“. Wobei es insgesamt interessant wäre, einmal darauf zu achten, worüber in den öffentlichen Debatten geredet wird und worüber nicht.
Raten Sie zu einer Entschleunigung angesichts der sich überstürzenden Daten- und Informationswellen?
Kaum zu überbietende Hysterie
Noch schlimmer kommen mir die Erregungswellen vor. Die Hysterisierung öffentlicher Debatten ist inzwischen kaum mehr zu überbieten, worunter Personen des öffentlichen Lebens am meisten zu leiden haben. Exemplarisch dafür ist der „Fall Wulff“, der sich – aus zeitlichem Abstand betrachtet – an Petitessen entzündet hat. Nur hat Christian Wulff selbst nicht verstanden, dass sein entscheidender Fehler darin lag, die Wucht der Winzigkeiten nicht zu erkennen. Stattdessen sagt er bis heute: „Ich habe doch gar nichts falsch gemacht.“ Doch, hat er. Er hat seine Person mit seinem Amt verwechselt. Und deshalb hat er sein Amt als Bundespräsident auch zu Recht verloren. Trotzdem sind die Hysterisierungswellen ein Problem, ganz klar.
Wer treibt da wen? Die Journalisten die Öffentlichkeit? Oder die Öffentlichkeit die Journalisten?
Ich glaube nicht, dass man das trennscharf auseinanderhalten kann. Umso wichtiger ist es, dass es gelingt, gelegentlich innezuhalten und zu fragen, „was machen wir da – alle miteinander?“ Mich hat zum Beispiel der Fall der US-Vizeverteidigungsministerin bestürzt, die zu einem Gesprächspartner „Fuck the EU“ gesagt hat. Darüber hat es sogar eine regierungsamtliche Empörung gegeben, obwohl die Bemerkung in einem privaten Telefonat gefallen war, also nur durch Abhören bekanntgeworden ist. Aber niemand hat das Recht auf Privatsphäre verteidigt. Der Skandal war, dass diese US-Politikerin etwas ganz besonders Böses über die EU gesagt hat, nicht, dass eindeutig Recht gebrochen wurde. Man sieht hier, wie die Maßstäbe schon ins Rutschen gekommen sind.
Stecken wir schon in der – wie Sie es nennen – Totalisierungsfalle des Informationszeitalters?
Wir gefährden die Demokratie, wenn wir die Grenzen zwischen öffentlich und privat aufheben, sei es mutwillig oder nachlässig. Ich gebe Ihnen noch ein Beispiel: Regierungssprecher Steffen Seibert hat das Abhören von Kanzlerin Merkels Handy mit den Worten kommentiert, „unter Freunden geht das gar nicht“. Falsch! Es geht überhaupt nicht. Das ist keine Sache der Freundschaft, sondern der Rechtsstaatlichkeit. Darauf hätte ein Regierungssprecher insistieren müssen, statt die Angelegenheit wie eine private Verfehlung abzuhandeln.
Schutzloses Individuum
Sie wenden den Begriff „Totalitarismus“ auf die Netzwelt an. Was können wir zur Gefahrenabwehr aus der angestammten Totalitarismusforschung lernen?
Die entscheidende Verwandtschaft zwischen politischem und digitalem Totalitarismus liegt in der Zerstörung der Privatheit, die das Individuum schutzlos macht. Günther Anders hat dazu schon in den 60er Jahren gesagt, „der Einzelne ist das erste besetzte Gebiet“.
Auch die literarische Kritik des Totalitarismus wie Orwells „1984“ oder Huxleys „Schöne neue Welt“ setzt bei diesem Phänomen an: der Okkupation der Privatsphäre.
Wahrscheinlich kam Anders genau deswegen darauf. Nun war die Privatheit aber noch nie in der Geschichte, in keiner der totalitären Gesellschaften, so im Verschwinden begriffen, wie das heute der Fall ist.
Wie sind Sie zu dieser These gelangt?
Durch ein Forschungsprojekt über Helfer und Retter im Nationalsozialismus. Es ist ja interessant, dass Tausende nur deshalb überlebten, weil irgendjemand sie versteckt hat und das geheim halten konnte. Irgendwann kam mir der Gedanke, „verdammt, die hätten heute überhaupt keine Chance mehr“. Wer es will, kann heute in jede Wohnung gucken, kann nachhalten, was und wie viel die Leute kaufen – und wenn einer plötzlich dreimal so viele Lebensmittel braucht wie sonst, dann weiß man, dass er zwei Esser mehr versorgt als vorher. Während die Gestapo oder die Stasi ihre Daten noch mühsam erheben mussten, brauchen die staatlichen Überwacher von heute sie bloß einzusammeln.
„Wir sind Teil des Problems“
Dagegen steht nur der Rechtsstaat?
Damit habe ich mich lange Zeit beruhigt und mir gesagt, gefährlich würde die Sache ja erst bei einem Regimewechsel, der den Rechtsstaat aus den Angeln hebt. Aber das ist falsch. Es braucht gar nicht den sichtbaren „Regimewechsel“, sondern nur den schleichenden Fall aller Schranken der Privatheit.
Und wir schwanken derweil zwischen Begeisterung über die unendlichen Möglichkeiten unseres Smartphones und der Angst vor der Zudringlichkeit der NSA?
Wir sind Teil des Problems. Wir bejubeln jede beschissene App oder den Fernseher, der auf Sprachkommandos reagiert. Aber zugleich sind wir empört über Angriffe auf unsere Privatsphäre, obwohl wir den Angreifern Tür und Tor öffnen. Und das nur wegen ein paar alberner Bequemlichkeitsvorteile. Als wäre es das größte Problem, dass unser Leben zu unbequem ist.
Ein auswegloses Dilemma?
Überhaupt nicht. Hans Magnus Enzensberger hat dazu gesagt, es sei ganz einfach, sich dem digitalen Totalitarismus zu entziehen: Smartphone wegwerfen, den Internetzugang kappen, E-Mail-Korrespondenz einstellen. Dafür erntete er dann viel Hohn und Spott.
Logischerweise.
Aber ich finde, er hat völlig Recht. Es wäre doch Micky-Maus-Denke, anzunehmen, dass eine Veränderung der Verhältnisse an einem so entscheidenden Punkt zu haben wäre, ohne einen Preis dafür zu bezahlen. Widerstand kostet. Schlimmstenfalls das Leben, wie wir aus der Geschichte wissen. Uns hingegen erscheint es schon als zu teuer bezahlt, wenn wir auf Whatsapp verzichten sollten. Obwohl wir wissen, dass wir uns mit jeder Message einer Totalüberwachung ausliefern. Enzensberger hält dagegen und sagt: Wir können etwas tun, wir müssen nur wollen.
„Ich habe auch kein Smartphone und werde mir ganz sicher nie eines zulegen“
Welche Formen der Verweigerung praktizieren Sie selbst?
E-Mails schreibe und lese ich noch. Auch Suchmaschinen benutze ich. Aber ich bin weder bei Facebook noch bei Xing. Ich habe auch kein Smartphone und werde mir ganz sicher nie eines zulegen.
Der letzte Verteidiger der Dampflokomotive?
Selbst wenn ich mir so vorkäme, hätte ich gute Gründe dafür.
Sie würden die E-Lok aber trotzdem nicht aufgehalten haben.
Moment, Moment! Die E-Lok interessiert sich nicht dafür, was für Bücher ich lese und welche Musik ich höre. Das Problem beim technischen Fortschritt ist gelegentlich, dass er nicht fortschreitet. Oder waren alle technologischen Innovationen gut, nur weil es sie gab? Die Atombombe? Zivile Nutzung der Kernenergie ohne Lösung der Entsorgungsfrage? Geplante Störungen von Geräten nach Ablauf der Garantiezeit? Der Stadtgeländewagen? Ingenieure haben schon viel Blödsinn in die Welt gebracht.
Sie dagegen appellieren an eine neue Ethik des Lebens?
Von Appellen halte ich wenig, schon gar nicht von moralischen Appellen. Ich möchte den Punkt ausfindig machen, an dem es für die Leute selber doof wird; den Punkt, an dem sie durch neue Techniken nur scheinbar etwas gewinnen. Was haben Sie zum Beispiel davon, in ein selbstfahrendes Auto einzusteigen?
Die Möglichkeit, mich mit anderem zu beschäftigen als dem Bremslicht des Vordermanns.
Ja, aber das „andere“ wird in den meisten Fällen wieder der Laptop mit liegengebliebener Arbeit sein. Der vermeintliche Gewinn an Freiheit führt im Ergebnis zu noch mehr Schufterei. Schauen Sie sich einfach mal auf einem Bahnhof oder in einer Flughafen-Lounge um: Alle sind ständig beschäftigt. Die nicht fremdbestimmten Orte und Zeiten werden immer weniger. Mit Blick darauf ist Autofahren und im Stau stehen tatsächlich ein Gewinn – an unfreiwilliger Freiheit. Einfach mal Löcher in die Luft starren! Was für ein Luxus! Dafür braucht es bloß eine ganz leichte Perspektiv-Verschiebung.
Das Gespräch führte Joachim Frank
