Siegfried Lenz wird 80 Siegfried Lenz wird 80: Geburtstag im Zeichen der Trauer

Hamburg/dpa. - Für den Schriftsteller Siegfried Lenz(«Deutschstunde») dürfte es am 17. März trotz aller öffentlichenEhrungen ein einsamer, schmerzhafter 80. Geburtstag sein. Im Februar starb «Lilochen». Seit 1949 waren sie verheiratet er damals noch23-jähriger Volontär bei der «Welt» in Hamburg, sie Sekretärin. Dieheute kaum mehr vorstellbare Kennenlerngeschichte aus derNachkriegszeit: Als er einmal in der Redaktion vor Hunger ohnmächtigwird, hilft Liselotte ihm mit einem Apfel wieder auf die Beine.
Zeit ihres Lebens sollte die acht Jahre ältere Liselotte ihmLebensstütze werden: Ihr las er zuerst seine Texte vor, hörte aufAnregungen, sie tippte bis ins hohe Alter die Manuskriptfassungen,ungezählte Abende lasen sie einander deutsche und fremdsprachigeLiteratur vor oder empfingen herzlich Gäste - in ihrem hundert Jahrealten Haus im vornehmen Hamburger Stadtteil Othmarschen oder imeigenen Feriendomizil - lange auf der dänischen Insel Alsen, späterin Tetenhusen bei Schleswig. Gerührt von der Gastlichkeit verglichenBesucher Siegfried und Liselotte mit Philemon und Baucis, jenemharmonisch und bescheiden lebenden alten Ehepaar, das Ovid in seinen«Metamorphosen» preist und dessen Hütte Zeus und Hermes nach einemBesuch aus Dankbarkeit in einen Tempel verwandelten.
Am Freitag (17. März) ist der Geburtstag, zwei Tage danach amSonntag (19.3.) laden der NDR, für den Lenz früher als Reporter undHörspielautor gearbeitet hat, und der Verlag Hoffmann und Campe Lenz ist ihm treu seit seinem ersten Roman «Es waren Habichte in derLuft» (1951) - zu einer feierlichen Matinee; sie wird im NDR-Fernsehen live übertragen (11.00 Uhr).
Die Freunde wollen ihren «Siggi» ehren und feiern: Günter Grass,Marcel Reich-Ranicki, Loki und Helmut Schmidt, Hoffmann und CampeVerleger Thomas Ganske - sie schätzen seine Liebenswürdigkeit, seinemoralische Integrität und natürlich sein literarisches Schaffen. Auchdie Dichterin Ulla Huhn und der literarische Jungstar Daniel Kehlmannkommen, und die Festrede wird der Lenz sehr verbundene israelischeAutor Amos Oz halten - Lenz hat immer wieder öffentlich Solidaritätmit Israel angemahnt. Die Politik erweist dem Ehrenbürger Hamburgsund Schleswig-Holsteins ebenso die Reverenz - in Person vonKultursenatorin Karin von Welck und Ministerpräsident Peter HarryCarstensen aus Kiel.
«Siegfried Lenz - er begann früher zu schreiben als ich - ist einwunderbarer Weggenosse seit meinen literarischen Anfängen bis inunsere alten Tage hinein», sagt Grass (78). Der Nobelpreisträgernennt Lenz einen Kollegen, «dessen Werk ich mit Respekt undBewunderung sehe, so unterschiedlich wir auch sind». Grass erinnertauch dankbar an das politische Engagement von Siegfried Lenz für dieOstpolitik Willy Brandts und gemeinsame Wahlkämpfe für die SPD in den60er und 70er Jahren. «In Sachen soziale Demokratie ist er einverlässlicher Mitstreiter gewesen.». Über Jahrzehnte verbindet beideein freundschaftliches Verhältnis.
Die Entwicklung zu einem der bedeutendsten deutschenNachkriegsschriftsteller war für Lenz ein dorniger Weg mit nicht nurpositiven Besprechungen seiner bislang 14 Romane, zahlreichenErzählungen, Theaterstücke, Essays und Hörspiele. Die biografischenVoraussetzungen schienen nicht die günstigsten, wie der JournalistErich Maletzke in der gerade erschienenen ersten Biografie über Lenzdeutlich macht.
Am 17. März 1926 wird Siegfried Lenz in der ostpreußischenKleinstadt Lyck, der «Perle Masurens», geboren als Sohn einesZollbeamten, wie es in Lebensläufen stets heißt. Doch die Ehe derEltern wie bereits der Großeltern scheitert. Die Mutter heiratetwieder und zieht nach Braunsberg, der Junge wächst bei der Großmutterin Lyck auf. Über seinen Vater sagt er lediglich: «Ich hatte garkeine Beziehung zu ihm.» Nach der Schulzeit in Lyck kommt Lenz mitanderen Hochbegabten auf ein Internat nach Kappeln (Schleswig-Holstein), er schafft dort die Qualifikation, um anschließend inSamter im damaligen Gau Wartheland im besetzten Polen das Gymnasiumzu besuchen. «Seemann» nannten ihn Mitschüler, weil er unbedingt zurMarine wollte und weil er mit seinen fantasievollen Geschichten schondamals die Nächte im Internat kurzweilig gestaltete.
«Traumatisches Erinnerungsgepäck» begleitet Lenz aus Kindheit undKriegsjugend. Als Junge bricht er im März, als das Eis schon brüchigist, ein und ertrinkt fast im Lycker See. Als «Pimpf» ist er glühendbei der Sache, steht Spalier, wenn es Leute wie Hitler oder Goebbelsnach Lyck verschlägt. In Samter als Gymnasiast und Mitglied derHitlerjugend haben er und seine Mitschüler zunächst nur die Sorge,dass der Krieg ohne ihren Einsatz zu Ende gehen könnte. Doch diePropaganda und Verführungen des NS-Regimes werden mit demKriegseinsatz seit 1944 auf dem Panzerkreuzer «Admiral Scheer»durch die grausame Wirklichkeit schnell entlarvt. In den letztenKriegsmonaten kommt Lenz an Land und wird nach Dänemark versetzt.
Wenige Tage vor Kriegsende desertiert Lenz, nachdem jemandliquidiert worden war, weil sie einen Toten brauchten, «um uns anihre Macht zu erinnern». Unklar ist, ob Lenz sogar Augenzeuge derHinrichtung war, schreibt Biograf Maletzke. Kriegsgefangenschaft, einmit Schwarzhandel finanziertes Lehrerstudium und Journalismusfolgten, ehe Lenz nach seinem erfolgreichen Debütroman «Es warenHabichte in der Luft» (1951) sein Brot als freier Schriftstellerverdiente. Anfangs ließ sich Lenz stark beeinflussen von Hemingway,Faulkner und den Existenzialisten Sartre und Camus.
«Die Welt zu entblößen, und zwar so, dass niemand sich in ihrunschuldig nennen kann», umriss Lenz in einem Essay seinen Anspruchan die Literatur. Doch anders als etwa Heinrich Böll mit seinemmoralischen Fundament des Katholizismus oder Grass als drastischformulierender Autor (etwa im Roman «Die Blechtrommel») ist Lenzstets ein leiser Autor gewesen, der bei den Lesern Zweifel weckenwill, niemals aber klare Lösungen oder Antworten vorgibt. In seinenbeiden besten Romanen «Deutschstunde» (1968) und «Heimatmuseum»(1977) geht es um Vergangenheitsbewältigung.
Die in zahlreiche Sprache übersetzte und 2,25 Millionen Malverkaufte «Deutschstunde» macht das Verhältnis von Macht und Kunstzum Thema am Beispiel des Malverbots für den Maler Nansen, Vorbildwar Emil Nolde. Es geht aber auch um einen pervertiertenPflichtbegriff mit seinen verheerenden Folgen und einen Vater-Sohn-Konflikt. «Heimatmuseum» setzt sich mit dem Verlust von Heimatauseinander, es ist eine klare Absage an einen revanchistischenUmgang mit dem Begriff Heimat.
Für seine Unterstützung des Polen-Vertrags von 1970, in dem dieOder-Neiße-Grenze anerkannt und damit auf die deutschen Ostgebieteverzichtet wird, hat Lenz verletzende Kritik vonVertriebenenverbänden eingebracht. «Nehmt euren Dreck zurück», hießes in Begleitschreiben zu zurückgeschickten Büchern, die Lenz und deraus Danzig stammende Grass erhielten.
Die literarische Qualität des Werks von Lenz haben Kritikerunterschiedlich bewertet, einige Romane wurden vom Stil her alsveraltet oder die typisierten Figuren als zu blutleer beschrieben.Hoch gelobt dagegen sind neben den internationalen Erfolgen«Deutschstunde» und «Heimatmuseum» die ebenfalls verfilmte Erzählung«Ein Kriegsende» über einen Befehlsnotstand auf einem Minensucherkurz vor Kriegsende. Und natürlich die zahlreichen, auch sehrhumorvollen Erzählbände, von denen «So zärtlich war Suleyken» (1955)wohl der bekannteste sein dürfte.
In seinen Literaturkanon hat denn auch Marcel Reich-Ranickimehrere Erzählungen von Lenz aufgenommen. «In der Tat sind dasStärkste, was er geschrieben hat, die Kurzstrecken, auch in der"Deutschstunde" gibt es fabelhafte Erzähl-Passagen», sagt Reich-Ranicki. Seit 1957 kennen sich beide, sie sind befreundet, aber aufBesprechungen von Lenz-Büchern verzichtet Reich-Ranicki seit Anfangder 70er Jahre.
Seit seinen schriftstellerischen Anfängen ist Lenz dem HamburgerVerlag Hoffmann und Campe treu geblieben. «Als Verleger wünscht mansich, einen Autor von seinem ersten bis zu seinem letzten Buch zubetreuen»,sagt Programmchef Günter Berg. Siegfried Lenz sei für denVerlag «ein Glücksfall - etwa wie für Siegfried Unseld einst UweJohnson oder Martin Walser bis zum Tod Unselds». Inzwischen liegteine 20-bändige Werkausgabe vor.
Zum 80. Geburtstag hat der Verlag zwei Publikationenherausgebracht. Erstmals sind in dem etwa 1500 Seiten dicken Band«Die Erzählungen» alle, teils nur in Zeitungen erschienenen Lenz-Geschichten zusammen gedruckt: «Es ist jetzt die erste Ausgabe allerErzählungen, die zudem editorisch sauber ist - mit Erscheinungsjahr,genauen Angaben über die erste Publikation und eventuellursprünglichem und später geänderten Titeln mancher Erzählungen.» Undin «Selbstversetzung» hat Berg verstreute Texte von Lenz über seineeigene Biografie und sein Selbstverständnis als Autorzusammengestellt.
Wie geht es Lenz? «Dass sein 80. Geburtstag und der Tod seinerFrau so nah beieinander liegen, ist für ihn ganz tragisch, dass musser erst noch verarbeiten», sagt Berg, der erst kürzlich den Autor zuHause besucht hat. «Und Lenz weiß, dass Arbeiten eine ganz wichtigeQuelle seines Lebens ist.» Voraussichtlich im nächsten Jahr soll dasneue Buch «Wellenbrecher» erscheinen, als schmaler Roman oder alslange Erzählung.