1. MZ.de
  2. >
  3. Kultur
  4. >
  5. Scharfe Denkerin

Scharfe Denkerin

Von andreas montag 13.06.2012, 17:05

halle/MZ. - Ihr berühmtestes Werk heißt "Die Unfähigkeit zu trauern", es erschien zuerst 1967 und ist heute noch dafür gut, eine Diskussion zu befeuern - zumal im Osten der Republik, wo das Thema seinerzeit gar nicht als Thema galt.

Das Buch, das Margarete Mitscherlich-Nielsen gemeinsam mit ihrem Mann Alexander Mitscherlich geschrieben hatte, kam der protestierenden Generation der Nachkriegskinder gerade recht: Die rechnete mit ihren Vätern ab und erinnerte sie an ihre Mitverantwortung für die deutschen Verbrechen während der Nazizeit. Nun ist die Mitautorin dieses Kultbuches, die Ärztin und Psychoanalytikerin Margarete Mitscherlich, im Alter von 94 Jahren in Frankfurt am Main gestorben.

"Die Unfähigkeit zu trauern" geht von der Grundthese aus, dass viele Deutsche nach dem Zusammenbruch des Hitlerregimes, dessen brave Mitläufer oder glühende Sympathisanten sie eben noch in großer Zahl gewesen waren, nun in eine Art Schreckstarre, ein emotionales Koma gefallen seien, um ihre eigene Verantwortung zu verdrängen. Trauern konnten sie nicht um das "Dritte Reich". Aber eben auch nicht um die Opfer...

Diese Abwehrhaltung gegenüber Schuld und Mitschuld an den nationalsozialistischen Verbrechen hat auch andere Autoren beschäftigt, erinnert sei nur an Wolfgang Borcherts Kriegsheimkehrer-Drama "Draußen vor der Tür", in dem der Unteroffizier Beckmann seine Verantwortung zurückgeben - oder wenigstens teilen möchte. Ohne Erfolg. Einen wichtigen Beitrag zum Thema hat auch Saul K. Padover geliefert, ein aus Wien stammender Jude, der mit den vorrückenden amerikanischen Truppen in den Westen Deutschlands kam und dort, beginnend noch 1944, Interviews mit den eben befreiten Deutschen geführt hat.

Der Band "Lügendetektor", ein erschütterndes Dokument zur Lage der Nation, ist erst Jahrzehnte nach Kriegsende in deutscher Sprache erschienen - in der "Anderen Bibliothek" bei Eichborn in Frankfurt.

Dieses Buch hat Mitscherlichs These von der Unfähigkeit zu trauern quasi empirisch belegt - was im Übrigen keinen der Zeitgenossen wirklich überrascht haben dürfte. Allenthalben waren Männer (und auch Frauen) unterwegs, die wenigstens nichts Böses, im Gegenteil eher Gutes getan haben wollten. Die nicht fertig wurden mit dem Trauma, dass sie so von Hitler und seinen Ideen fasziniert gewesen waren. Und dass sie nun Verlierer und Gebrandmarkte waren.

Noch viel dramatischer hat sich das im Osten Deutschlands abgespielt, wo es für die DDR-Bürger quasi einen generellen "Persilschein" gegeben hatte: Alle durften Antifaschisten und, an der Seite der Sowjetunion, auch "Sieger der Geschichte" sein.

Wie verhängnisvoll sich hier, in einem Land mit verordneter Geschichte, dann der abermalige System-Zusammenbruch ausgewirkt hat, kann man in den Büchern des halleschen Psychotherapeuten Hans-Joachim Maaz ("Der Gefühlsstau" und andere) nachlesen.

Mit ihrer scharfen Analyse hat sich Margarete Mitscherlich, die das Frankfurter Sigmund-Freud-Institut gestern als eine Frau von imponierender intellektueller Wachheit gewürdigt hat, freilich nicht nur Freunde gemacht. Lange Zeit galt sie jenen, die sich angegriffen fühlten, als Parteigängerin der rebellierenden Studentenschaft, der Linken schlechthin.

Aber das ist sie gar nicht gewesen. Im Gegenteil hat sie nicht bei den Nazis und ihrem Volk damit aufgehört, Massenphänomene skeptisch zu betrachten, sondern auch das kollektive Aufbäumen gegen die Väter, wie es die Achtundsechziger kultivierten, in den Blick genommen. Und schließlich gehörte sie auch einer anderen Generation als diese langhaarigen Kommunarden an.

Geboren am 17. Juli 1917 als Tochter eines dänischen Arztes und einer deutschen Lehrerin, studierte Margarete Nielsen in Flensburg Medizin, in München und Heidelberg Literatur. Ab 1951 arbeitete sie dann mit dem knapp zehn Jahre älteren Arzt und Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich an der von ihm geleiteten psychosomatischen Klinik in Heidelberg zusammen, 1955 heirateten sie. Gemeinsam mit Mitscherlich, der 1982 gestorben ist, zog sie 1967 nach Frankfurt am Main, eines der Zentren der Studentenbewegung, wo sie eine Lehrtätigkeit am Sigmund-Freud-Institut aufnahm.

Prägend für Margarete Mitscherlichs Arbeit, zumal als Autorin, war, dass sie niemals ein Wahrheitsmonopol für ihre Thesen beanspruchte, sondern diese vielmehr als Angebote für einen Diskurs verstand. Nicht anders wird es auch mit dem 1985 erschienenen Buch "Die friedfertige Frau" gewesen sein, in dem sie das Rollenverhalten der Frau in der Politik untersuchte und ihren eigenen Ruf als Feministin festigte.

Interessanterweise haben auch Frauen sehr gegen dieses Buch polemisiert und der Autorin die Begründung eines ungerechtfertigten Mythos vorgeworfen. Gleichwohl hat Mitscherlich bis in ihr hohes Alter eines hoch in Ehren gehalten, woran es noch immer Mangel gibt in der reichen Bundesrepublik: eine Kultur des Streitens.