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Wegbereiter der Revolution von 1989 Rolf Henrich erzählt von Desillusionierung

Von Christian Eger 26.04.2019, 10:00
Jurist Rolf Henrich, 75: „Im Nichtdazugehören ausharren“
Jurist Rolf Henrich, 75: „Im Nichtdazugehören ausharren“ Bettina Zarneckow

Halle (Saale) - Halle am 21. Juni 1989: Die Georgenkirche ist überfüllt. Mehr als 300 Menschen sitzen, hocken, warten. Mit tosendem Applaus begrüßen sie den Gast des Abends: Rolf Henrich, damals 45, noch wenige Monate zuvor SED-Mitglied und Rechtsanwalt in Eisenhüttenstadt. Bis zum Erscheinen seines nur im Westen veröffentlichten Buches „Der vormundschaftliche Staat.“

Henrich fordert in Halle den Rückzug des Staates aus dem Kultur- und Geistesleben. Er empfiehlt die polnische Gewerkschaft Solidarnosc als Vorbild dafür, wie man sich gegen die SED zur Wehr setzen könnte. Er schließt eine föderalistische West-Annäherung nicht aus. Die amtlichen Lauscher notieren: „Henrich ist rhetorisch ungewöhnlich gut“.

Rolf Henrich erzählt „Geschichte einer politischen Desillusionierung“

Sein Buch über das „Versagen des real existierenden Sozialismus“ ist ein Aufreger. „Während noch im Jahr zuvor kaum eine Kundgebung der Opposition, keine illegale Broschüre, kein Aufsatz im Samisdat die Leute aufrütteln oder in ihrem Verhalten erkennbar beeinflussen konnte, vermochte jetzt eine Protestveranstaltung wie die in der Georgengemeinde zum Ereignis zu werden“, blickt Rolf Henrich zurück. „Es gab keinerlei Fremdheit, keine ideologische Kluft zwischen mir und den Hallensern.“

„Ausbruch aus der Vormundschaft“ heißt das Buch, in dem der noch immer am östlichsten Rand Ostdeutschlands tätige Anwalt seine Erinnerungen vorlegt. Keine Helden-Litanei, keine Pathos-Fibel, sondern ein kluger, anregender, nämlich verstörend genauer Selbstbericht. Der erzählt die lange „Geschichte einer politischen Desillusionierung“. Die endet nicht vor 1989.

Bei der Lektüre sortiert sich das Buch in zwei Teile. Da ist die Geschichte des 1944 in Magdeburg geborenen Sohnes einer geschiedenen, oft abwesenden Mutter. Obwohl es Henrich zur Philosophie drängt, wird er von einer wohlwollenden Lehrerin auf die Juristerei gelenkt, um nicht auf dem Abstellgleis zu landen. Henrich studiert in Jena und Berlin. „Es war ein disziplinierendes Wissen, mit dem wir traktiert wurden, ein Wissen, dessen Zweck darin bestand, uns genauestens Leitplanken aufzuzeigen, die wir im politischen Diskurs nicht streifen durften.“

Henrich berichtet von Aufbruchstimmung und Opposition

Henrich malt nicht Schwarz-Weiß. Nachvollziehbar zeigt er die linke Aufbruchstimmung nach 1961, die 1965 endet; für den Sozialismus ist er da längst entflammt. Henrich schwärmt für Marx und Che Guevara. Von der Stasi als West-Kundschafter aufgebaut zu werden, lehnt er nicht ab; 1969 kommt es zum Bruch. Henrichs Eigensinn manövriert ihn aus der Juristen-Elite heraus. Zu der gehört der Kollege Gregor Gysi, von dem Henrich knapp mitteilt, er sei „ethisch mit leichtem Gepäck unterwegs“.

Henrich landet in der märkischen Provinz, wo ihn - gut gesehen! - die notorische DDR-Langeweile erst in die Beschäftigung mit der - halleschen - Psychotherapie, schließlich in die Opposition treibt. Mit einem entsetzten Blick zurück. „Mein Fanatismus und meine Borniertheit - sie sind mir heute vollkommen fremd. Aber es ist passiert. Scheinbar geht das meiste Unglück wirklich von Menschen aus, wie ich einer gewesen bin“. Und: „Warum waren wir nicht voller Abscheu über die Menschenverachtung des Stalinismus, seine Brutalität bei der Umgestaltung der Welt? Was gab es da, wovon wir sentimental gestimmt nicht loskamen?“

Rolf Henrich: Zurück in die Mündelrolle

Sein Skandalbuch schrieb Henrich aus tätiger Reue. Ein Gegenbuch zu Rudolf Bahros „Die Alternative“ (1977), die Henrich enttäuschte: Wie gleichgültig Bahro Menschen- und Bürgerrechte waren, wie wenig ihm Rechtsstaatlichkeit galt! Im März 1989 erscheint bei Rowohlt das Buch von Henrich. Das Berufsverbot folgt, mehr riskiert die SED nicht mehr. Der Autor reist jetzt durch die DDR, um seine Ideen unters Volk zu zu bringen.

Die Gründung des von ihm gemeinsam mit Bärbel Bohley und Katja Havemann erfundenen Neuen Forums gehört dazu. „Meine Skepsis, dass aus der kirchenabhängigen, hermetischen Gesellschaft der etablierten Widerständler kein Aufbruch zu erwarten sei, wies mir die Richtung.“ Henrich setzt auf primär praktische, nicht auf gesinnungsethische Politik. Der Blick ins Innere des Neuen Forums, auf die Alleingänge von Bärbel Bohley und auf die Monate am Runden Tisch gehören zum Erhellendsten, was hierzu zu lesen ist.

Sein 1989er Einsatz gegen die Vormundschaft erscheint Henrich heute wie „aus der Zeit gefallen“. Schnell sei das Volk in die Mündelrolle zurückgekehrt. Den Verzicht auf eine gesamtdeutsche Verfassung hält er für heillos. Den auf basisdemokratische Teilhabe auch. Seinen Ort findet Rolf Henrich „Abstand haltend zu dem Spektakel des Politikbetriebs und der lärmenden Stimmungsmache, fern von jeder mitläuferischen Gefolgschaft“. Nunmehr in einem Rechtsstaat, der das „Ausharren“ im „Nichtdazugehören“ nicht verübelt. (mz)

Rolf Henrich: Ausbruch aus der Vormundschaft. Erinnerungen, Ch. Links Verlag, 384 S., mit Abb., 25 Euro