Musik über die Mauer Rockpalast: Musik über die Mauer: ARD strahlt vor 40 Jahren erstmals eine Rockpalast-Nacht aus

Halle (Saale) - Pete Townshend macht die Windmühle. Roger Daltrey schüttelt die Korkenzieherlocken, das enge Ringelshirt längst nassgeschwitzt. „Won’t get fooled again“, singt der schmale Hecht am Mikrophon, während seine Band The Who sich dem Finale ihres Auftritts nähert.
Die Grugahalle in Essen tobt, in Halle-Neustadt zerbricht ein Glastisch und eine volle Bierflasche fällt um. Jemand hockt vor dem SchwarzWeiß-Fernseher Marke Debüt VT132 aus dem Fernsehgerätewerk Stassfurt und starrt gebannt auf die Aussteuerungsanzeige eines Kassettenrecorders „Anett“ aus dem VEB Antennenwerke Bad Blankenburg. Jemand tanzt, wo neben der Durchreiche sonst der Esstisch steht. Jemand torkelt zur Toilette. Und jemand anderes ist mit jemand anderem im Elternschlafzimmer verschwunden.
Stefan Maelck: „Der Rockpalast hat mich stärker beeinflusst als Abitur und Studium“
Zwei Samstagnächte im Jahr sind Anfang der 80er Jahre in der DDR nicht so wie sonst alle. Es ist „Rockpalast“-Zeit im Westfernsehen, eine seltene Gelegenheit für die Jugend im Osten Deutschlands, die großen, fernen Stars von den teuer erkauften und wie Heiligtümer verehrten Langspielplatten aus dem Westen live zu erleben. Einmal im Frühjahr, einmal im Herbst kommen sie zu Besuch hinter den Eisernen Vorhang: The Who und Patti Smith, Peter Gabriel und Rory Gallagher, The Kinks und Bryan Adams, Joe Jackson, Van Morrison und The Police.
Mitte der 70er hatte der WDR-Jugend-Redakteur Peter Rüchel begonnen, unter dem Namen „Rockpalast“ bekannte und auch weniger bekannte Bands live ins Fernsehen zu bringen. Am 23. Juli vor 40 Jahren startete dann die erste große, sechsstündige Rocknacht. Der Ire Rory Gallagher, die US-Band Little Feat und der legendäre Byrds-Frontmann Roger McGuinn gehen live auf den Äther, es folgen Konzerte mit Mothers Finest und Mitch Ryder, und allmählich verschob sich das Gewicht von gestandenen Klassikern des Rock zu Neuentdeckungen wie U2, REM, Elvis Costello und Prince.
Für die Jugend der DDR sind das Nächte wie Gottesdienste. Erst muss eine sturmfreie Bude her, dann sind Bier, Schnaps, Wein und Zigaretten zu besorgen. Es ist auszuknobeln, wer seinen Recorder mitbringt, um die Konzerte für alle mitzuschneiden. Hat der Fernseher einen Anschluss für ein Überspielkabel? Gibt es vielleicht sogar Radioempfang? Und jemanden, der einen Recorder hat, der Stereo aufnehmen kann?
Dann endlich die ersten Takte von „Believe in me“ vom 75er Album „Hotline“ der J. Geils Band aus Massachusetts. Die Neonschrift blinkt: Rock-pa-last. Jubel. und Albrecht Metzger, der die magischen Worte spricht: „German Television proudly presents - Liebe Freunde, heute zu Gast bei uns im Rockpalast . . .“ Die Bierflaschen zischen. Gänsehaut, selbst wenn die Bandnamen niemandem etwas sagen.
Rockpalast: Essen ist für DDR-Jugend in den 80er Jahren Welthauptstadt des Rock
Es ist live, es ist die Essener Grugahalle, die Bill Haley s 1958 nur drei Tage nach ihrer offiziellen Eröffnung mit einem legendären Konzert einweihte, bei dem die Polizei vergeblich versuchte, enthusiastisch tanzende Besucher gewaltsam zurück auf ihre Sitzplätze zu zwingen. Damals blieben ein paar Scherben liegen, ein paar Stühle waren kaputt und eine Legende war geboren.
Aus Leipzig, Halle, Schwerin und Erfurt gesehen ist Essen in den 80er Jahren die Welthauptstadt des Rock. Muss es doch sein, denn von dort, in der heruntergekommenen Großstadt im Zentrum des Ruhrgebiets, die die Ostjugend aus Adolf Winkelmanns Fernsehfilmen „Die Abfahrer“ und „Jede Menge Kohle“ kennt, hört man das Herz der Rockszene auch in Zeitz und Zeulenroda, in Jüterbog und Wittstock schlagen. Und klingt nicht „Grugahalle“ - später vom Rocksänger Heinz Rudolf Kunze in einer Liedzeile geadelt - nach weiter Welt, nach Rockexzess und aus Hotelzimmern fliegenden Fernsehern? Dass „Gruga“ die Abkürzung für „Große Ruhrländische Gartenbau-Ausstellung“ ist, weiß zum Glück niemand.
Es ist der Geist der Musik, der in der DDR immer noch der Ruch von Unbotmäßigkeit anhaftet, der dem Rockpalast bei allen zwischen 12 und 28 zu einem unsterblichen Nimbus verhilft. Stefan Maelcks erster Rockpalast, das weiß der heute in Halle lebende Musikkritiker und Buchautor noch genau, war der mit Rory Gallagher. Der 13-Jährige aus Wismar sitzt damals vor dem Röhren-Fernseher, der den 29-jährigen Iren zeigt. „Die Gitarre eine Stratocaster, die Stimme rau und gehetzt - ich war elektrisiert“, erinnert sich der Maelck.
Musikjournalist Maelck: „Der Rockpalast zieht sich durch mein Leben“
Das Schicksal einer Generation, für die Rockpalast-Konzerte zu Löchern in der Mauer wurden, die der Kalte Krieg zwischen sie und ihre Idole gebaut hatte. Beziehungen fürs Leben wurden hier geschlossen: Stefan Maelck etwa verliebte sich unsterblich in die Musik von Van Morrison und Joan Armatrading. Andere erwischten REM, Kevin Rowland oder U2, live übertragen von der Loreley, einer Art Außenstation des eigentlichen Rockpalastes.
Wer um die Zeit noch geradeaus gucken konnte, bestaunte im Herbst 1980 weit nach Mitternacht eine Band, die sich The Police nannte. Der Sänger in weißer Hose, der Bass spielt und aus aderngeschwelltem Hals „Bring on the night“ fordert, heißt Sting und wird am nächsten Montag der Star aller Schulhöfe sein. Jetzt aber verrichtet er in Haus 10 von Block 354 erst einmal ein Zerstörungswerk: Der Pogo hüpft durch die gute Stube, ein Besen wird zum Bass, ein Lampenschirm aus Glas kracht zu Boden, ein Tänzer tritt hinein. Es fließt Blut auf die gute Auslegware, während Sting „ihooooo“ jodelt. Zeit, die nie vergeht.
„Der Rockpalast zieht sich durch mein Leben“, sagt Stefan Maelck, der heute selbst als Rockjournalist arbeitet, „er hat mich stärker beeinflusst als Abitur und Hochschulstudium.“ Nicht nur ihn. (mz)
Zum Rockpalast-Archiv: www.bit.ly/rockpalastarchiv

