Religion Religion: Wer hat Jesus ermordet?

Münster/dpa. - Wie ein Geier lauert der Hohepriester Kajafas auf sein Opfer, Jesus von Nazareth. Mit tiefem Bass und finsterer Miene lässt er keinen Zweifel an seiner üblen Gesinnung. Millionenfach hat das Pop-Musical «Jesus Christ Superstar» in den 70er Jahren dieses Zerrbild des ehemaligen religiösen Anführers der Juden verbreitet. Auch die anderen Mitglieder des jüdischen Gerichtshofs im Jahr 30 nach Christus kommen als ledergegurtete Finsterlinge mit nacktem Oberkörper daher. Auf einen optischen Antisemitismus dieser Art verzichtet offenbar der neue Jesus-Film von Mel Gibson, aber der Streit um die korrekte filmische Darstellung der Juden beim biblisch überlieferten Jesus-Prozess ist erneut entbrannt.
«Dieser Streit reicht zurück bis in die Stummfilmzeit», sagt der Münsteraner Theologe und Filmexperte Reinhold Zwick. Bereits 1916 habe der US-Regisseur David Wark Griffith ein Szene seines Films «Intolerance» nach heftigen Protesten neu gedreht. In der Originalversion waren es Juden, die Jesus ans Kreuz schlugen - eine üble Verzerrung der historischen Wahrheit. Wissenschaftlich bestehen keine Zweifel, dass die römische Besatzungsmacht den Wanderprediger Jesus von Nazareth als gefährlichen Aufrührer und politischen Unruhestifter zum Tode verurteilte. Nur der römische Statthalter von Judäa, Pontius Pilatus, durfte überhaupt Todesurteile aussprechen.
Aber welche Rolle spielten dabei «die Juden»? Die Evangelien berichten, dass das jüdische Volk während des Prozesses bei Pilatus den Tod Jesu und die Freilassung des Mörders Barrabas forderte. Doch das ist eine theologische Deutung der Evangelienschreiber aus der Zeit nach der Zerstörung Jerusalems im Jahre 70 n.Chr. Die frühchristlichen Gemeinden lösten sich zu der Zeit immer mehr von den jüdischen Synagogen. Diese Auseinandersetzung reflektierten die Evangelisten bei ihren Berichten über die mehr als 40 Jahre zurückliegende Kreuzigung.
Das Neue Testament enthält eben keine historischen Berichte, sondern Glaubenszeugnisse, in denen Geschichte und Deutung miteinander verbunden sind. Mel Gibsons Versuch, die Evangelien wortgetreu ins Bild zu setzen, erscheint daher reichlich naiv. «Ein unkritisches, fundamentalistisches Verständnis der Bibel, gepaart mit einer naturalistischen Darstellung, ergibt bei der Passionshandlung fast zwangsläufig denunzierende Klischeebilder der jüdischen Seite», sagt Prof. Zwick.
Falsch läge aber auch der, der die jüdische Obrigkeit jener Zeit von jeglicher Schuld am Tod Jesu freisprechen wollte. Die meisten Bibelforscher sind sich einig, dass die jüdische Tempelaristokratie der Sadduzäer Jesus festnehmen ließ und ihn mit einer politisch formulierten Anklage zu Pilatus brachten. Grund war die heftige Kritik Jesu am Tempelkult und sein Anklang beim Volk. Die sadduzäisch dominierten Hohenpriester, die enge Kontakte zu Pilatus pflegten, sahen dadurch die Grundlage ihrer Privilegien und der religiösen Ordnung bedroht.
Vier Jahrzehnte nach der Kreuzigung wurde die Macht der Sadduzäer dennoch gebrochen. Mit der Zerstörung Jerusalems durch die Römer endete eine ganze Epoche. Auch die Guerilla-Gruppen der jüdischen Zeloten, die gegen die Besatzer kämpften, und die Gruppe der Essener, die in ihrem Kloster in Qumran lebten, gingen zu Grunde. Nur die Pharisäer - die Schriftgelehrten, die das rabbinische Judentum begründeten - überlebten und setzten sich mit den jungen christlichen Gemeinden auseinander. Allein aus diesem Grunde werden sie in den Evangelien rückwirkend als Hauptgegner des Wanderpredigers Jesus von Nazareth dargestellt.
Tatsächlich stand Jesus den Pharisäern wohl so nahe wie keiner anderen jüdischen Gruppe - obwohl oder gerade weil er mit ihnen über die richtige Auslegung der Thora und des mosaischen Gesetzes stritt. Viele Jesus-Filme sind aber antijudaistischen Tendenzen der Evangelisten aufgesessen, die die Schuld des Pilatus zurückdrängten und die jüdische Seite stärker belasteten.
Matthäus etwa steigert den Auftritt Jesu vor Pilatus zu einem menschheitsgeschichtlichen Drama. Das «ganze» jüdische Volk schreit dann: «Sein Blut komme über uns und unsere Kinder.» (Mt 27,25) Solche Überzeichnungen der Juden als «Christus-Mörder» belasten das Verhältnis des Christentums zum Judentum bis heute, wie Theologen und Historiker betonen. Wer einen Jesus-Film drehen wolle, ohne diese ganze Geschichte - bis Auschwitz - zu reflektieren, der müsse scheitern.