Rausch und Ernüchterung
Zürich/MZ. - Diesmal sitzen alle im selben Boot, nur die Schauspieler rudern in die entgegengesetzte Richtung. Auf der Bühne des Züricher Schauspielhauses hat Anna Viebrock den Zuschauerraum samt Rang und Zierleisten gespiegelt, anstelle der Stuhlreihen aber gibt es hier ein Unterdeck mit Offiziersmesse und Hängematten. Und wann immer die MS "Illyrien" auf ihrer Reise durch das Polarmeer der Emotionen einen Eisberg rammt, purzeln alle Passagiere heillos durcheinander. Was wird hier gespielt? "Was ihr wollt"!
Mit seiner engsten Darsteller-Familie und einigen hoffnungsvollen Neuzugängen hat der Regisseur Christoph Marthaler die traurigste aller Shakespeare-Komödien an seiner neuen Wirkungsstätte in Szene gesetzt. Und wie stets zerrann ihm die klassische Vorlage dabei wie verspielte Zeit zwischen den Fingern. Doch wer an dieser Lesart leidet, ist in der Praxis dieses Musik- und Bewegungstherapeuten ohnehin fehl am Platze.
Denn natürlich ist Shakespeare dem Meister der Langsamkeit nur ein Vorwand für den rhythmischen Wechsel zwischen Rausch und Ernüchterung, den Süchtige und Liebende gemein haben. Dass bei Marthaler getrunken wird, wo man auf anderen Bühnen Küsse tauscht, ist zweifellos eine eigentümliche Interpretation, falsch im Sinne des Erfinders aber ist es gewiss nicht.
Der Streit, wie viel die Inszenierung von der ursprünglichen Geschichte rettet, ist daher müßig: Der Virtuose Marthaler, der die Einsamkeit als Zustand der höchsten Selbsterfahrung schätzt und pflegt, sucht sich die zentralen Figuren seiner Lesart auch diesmal eher an der Peripherie des Textes. Und dort entdeckt er - abseits der bekannten Konstellationen zwischen Viola, Orsino und Olivia - so randständige Erscheinungen wie den lächerlichen Malvolio oder das bizarre Duo Toby und Andrew, die er für ihre überraschenden und demaskierenden Bravourstückchen an die Rampe holt.
Es ist fraglos kein Abonnenten-Seminar in Sachen Shakespeare, sondern ein "Was ihr wollt" für Gourmets entstanden. Doch dass die tragikomische und aberwitzig musikalische Großfamilie des Einzelgängers Marthalers in diesen Stunden einmal mehr ihre spezielle Form des seltenen Zuschauer-Glücks stiften kann, werden auch die Berliner erfahren, wenn die Züricher Inszenierung im Mai zum Theatertreffen kommt.