Nur ein Moment Nur ein Moment: Nach der Wende gingen die Aufstiegs-Chancen für Jüngere zurück

Halle (Saale) - Auf einmal spielte die Musik. Im November vor 30 Jahren hob sich die Bleiplatte, die seit Jahrzehnten auf der ostdeutschen Gesellschaft lag. Der Deckel, der die Sozialstruktur der DDR unverrückbar abschloss. Der Aufstiegs-Chancen verwehrte, Machtpositionen zementierte und ganze Jahrgänge in ihrer geistigen, tätigen und gesellschaftlichen Energie ausbremste.
Die Musik erklang und es begann eine Bewegung, die sich im Bild des Gesellschaftsspiels „Reise nach Jerusalem“ fassen lässt. Plötzlich ergriff Hektik den gesellschaftlichen Raum. Jene, die Jahrzehnte an ihren Stühlen geklebt hatten, sprangen plötzlich auf, wurden hochgerissen, ob sie wollten oder nicht. Jene, die von außen her an die Stühle wollten, stürmten ins Bild. Es begann das Rennen um die neuen gesellschaftlichen Plätze, die nach der Revolution zu besetzen waren.
„Doch bevor es so richtig losging“, schreibt der Soziologe Steffen Mau, „verstummte die Musik wieder. Nun fehlte allerdings nicht nur ein Stuhl, sondern gleich mehrere, so dass für viele kein Platz mehr war. Und diejenigen, die einen ergattert hatten, hielten sich mit aller Kraft daran fest. An Bewegung war nicht mehr zu denken.“ Ein Befund, der um diese Pointe zu ergänzen wäre: Und wenn sie nicht gestorben sind, dann kleben sie noch heute.
Es gehört zu den interessanteren Befunden, die Steffen Mau ausbreitet, dass die Vor-89er „Mobilitätsblockaden“ der ostdeutschen Gesellschaft nach 1989 keinesfalls aufgelöst wurden. Im Gegenteil. Die „Bleiplatte“, von der Mau spricht, um die stillgelegte gesellschaftliche Dynamik in der DDR zu bezeichnen, hob sich nur für einen kurzen Moment, fassbar zwischen November 1989 und Frühjahr 1990. Kaum ertönte die „Wende“-Musik, war sie schon wieder verklungen. Die Soziologie spricht von einer „sozialstrukturellen Petrifikation“, also einer neuerlichen Versteinerung der gesellschaftlichen Verhältnisse nach 1989.
Neue „Refeudalisierung“
Steffen Mau, 1968 in Rostock geboren und seit 2015 Professor für Makrosoziologie an der Humboldt-Universität, hat sich jetzt über den ostdeutschen Alltag gebeugt, auf Soziologisch: das „Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft“. Das ist die Unterzeile des Buches, das im Titel „Lütten Klein“ heißt. Der Name einer Plattenbausiedlung, die zwischen Mitte der sechziger und siebziger Jahre zwischen dem Rostocker Stadtzentrum und dem Touristenort Warnemünde hochgezogen wurde.
Seinerzeit privilegiert, verbrachte Steffen Mau in Lütten Klein seine Kindheit und Jugend. Persönliche Betrachtungen, die den Ort bis in die Gegenwart beschreiben, und soziologische Reflexionen zum Vor- und Nach-89er Osten führt er zusammen, um die Gegenwart verstehen zu helfen. Bei allen Mängeln: Bis auf weiteres ist Maus Buch das umfangreichste soziologische Nachschlagewerk zur Lage im Osten.
Mau betrachtet das Leben in und nach der DDR, lehrbuchhaft sortiert nach soziologischen Aspekten. Klar wird schnell, eine „Diktatur des Proletariats“ war die DDR nur dem Namen nach, tatsächlich vollzog sich die Herrschaft eines Cliquen-Netzwerkes, das sich nicht aus einer „offenen Auswahl der Fähigen“ rekrutierte. Der Anteil der studierenden Arbeiterkinder im Westen war von Ende der 1970er Jahre an viel höher als in der DDR, am Ende mehr als doppelt so hoch.
Durchweg war die DDR ein „Abwanderungsland“, der Osten ist es bis heute. Mau spricht von einer „frakturierten“, also gebrochenen Gesellschaft, die weder robust noch flexibel sei. Hier sei vor allem das Nach-89er Geschehen ursächlich, das zu einer ostdeutschen Unterschichtung des Westens und westlichen Überschichtung des Ostens führte.
Die Generation der Jugend, die massenhaft im Sommer 1989 über die östlichen Grenzen floh oder in ihren Heimatstädten auf die Straßen zog, blieb außen vor. Eben keinesfalls allein die 1989 um die 50-Jährigen, die in den Vorruhestand geschoben wurden, auch die zwischen 1960 und 1969 geborene Ost-Generation wurde nachhaltig ausgebremst. Auch statusmäßig. 60 Prozent der Söhne, deren Väter in der DDR gehobene Mittelschichtberufe innehatten, sind sozial abgestiegen. Die ohnehin geringen Vermögen werden seit 2017 wieder kleiner. Die notorische West-Rekrutierung der Ost-Elite ist oft benannt, aber nicht rückläufig. Heute ist die Rede von einer „Refeudalisierung der sozialen Ungleichheit“.
Ein Buch der Schwarzmalerei? Nein. Eine Bestandsaufnahme? Durchaus. Mau unterschlägt nicht, dass die Freiheitsgewinne im Osten „enorm“ seien, dass es den Menschen materiell besser gehe, als sie es jemals gehofft hatten. Es steht aber die Frage: Freiheit wozu? Wohlstand wofür? Und gemessen woran? Ausdrücklich - und leider - will Mau keine Handlungsempfehlungen geben. Dass eine naiv geforderte „innerdeutsche Gesprächstherapie“ aber nicht reiche, sagt er deutlich.
Bleierne Zeit
Dabei bietet Mau keine leichte Lektüre. Die privaten Beobachtungen wirken angeklebt, seine - oft stilistisch verquasten - soziologischen Befunde wie eilig zusammengesucht; problematisiert wird selten. Man weiß nie so recht, mit wem man es bei dem Autor zu tun hat. Systemnah? Oder -fern? Es war ein Fehler, die private und wissenschaftliche Darstellung zu vermischen, die jeweils nie ganz auserzählt ist.
Zudem taugt Lütten Klein nicht als Spiegel der ganzen DDR, die sozial differenzierter war. Es fehlen die kontroversen Aspekte von Herrschaft und Opposition. Die Frage, ob 1989 eine „Revolution“ oder „Implosion“ war, lässt Mau liegen. Es fehlt die Kirche. Und der Blick darauf, wie sich eigentlich die SED-Herrschaft rekrutierte und wie diese ihren Einfluss - auch über die Blockparteien - bis in die Gegenwart transformierte. Und doch: Diese Gegenwart nicht nur gefühlt freihändig, sondern faktisch belegt als eine „bleierne Zeit“ sichtbar zu machen, ist ein nicht geringes Verdienst des Autors.
››Steffen Mau: Lütten Klein. Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft. Suhrkamp, 284 S., 22 Euro (mz)