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Nordharzer Städtebundtheater Nordharzer Städtebundtheater: Die Grausamkeit der verletzten Seelen

Von Ute van der Sanden 25.01.2008, 19:27

Halberstadt/MZ. - Er spricht von der "Grundtraurigkeit", die ihm in den Protokollen begegnete. Sie fragt, ob es richtig sei, das Leben der betroffenen Menschen nachzuspielen und sich über sie zu stellen. Funk, Fernsehen, die überregionale Presse sind da - auch eingedenk des rechtsradikalen Überfalls auf Halberstädter Schauspieler im Juni 2007. Geht es doch nicht allein um einen Mord und seine Hintergründe. Es geht um die Gesellschaft, wie sie ist. Und um das Theater, was es darin soll.

Sequenzen, in denen die beiden Schauspieler sich selbst zeigen, sind Teil der Premiere, Teil der Inszenierung. Was folgt, ist schwer auszuhalten. Zwischen weißen Gasbetonsteinen - mit solchen hatten die Täter Marinus den letzten Lebensfunken ausgeschlagen, worauf sie ihn in der Jauchegrube "entsorgten" - breiten Hessel und Müller Psychogramme von Schuldiggewordenen aus, die selbst Opfer waren. Alle Figuren in dem Dokudrama haben Namen, alle leben noch, bis auf die Mutter des Opfers, die am Tag der Urteilsverkündung einem Krebsleiden erlag: Marinus' "Mama", die den Sohn erst eine Woche nach seinem Verschwinden als vermisst meldete.

Sein bester Freund, dessen Pein sich in nervöser Unruhe entlädt: "Eh Alter, ick vermiss dir." Der Staatsanwalt, die Freundinnen, die Eltern der Mörderbrüder Schönfeld. Ihr Couch-Dialog enthüllt die Trostlosigkeit jämmerlicher Nachwende-Existenzen: die LPG und alle Gaststätten geschlossen, jeder Zweite ohne Arbeit, die lukrative Schwarzarbeit passé.

Axel Sichrovskys vielleicht größtes Verdienst an diesem knapp zweistündigen Abend ist, dass er nicht inszeniert wirkt. An keiner Stelle vermittelt sich dem Zuschauer der Eindruck, etwas Künstlich-Künstlerisches vorgespielt zu bekommen. Das Geständnis des Täters Marcel Schönfeld etwa wird in die Dunkelheit gesprochen - die Schilderungen sind so ungeheuerlich, dass sie keine Bilder brauchen.

Nach und nach formt das intensive, quasi verstehende Spiel der Darsteller aus den Fragmenten ein Bild jener Umstände, unter denen Menschen mit verletzten Seelen zu Bestien werden: die abscheuliche Faszination rechtsradikaler Demagogie, die Enthemmung im Suff, der Drogenrausch als höchstes Glücksgefühl. Die unerträgliche Banalisierung durch die Lokalpolitik, gipfelnd in dem Ausruf: "Halberstadt ist ein ganz normales Dorf!".

Statt zur Premierenfeier treffen sich Theaterleute und Publikum anschließend zum Gespräch. Große Ratlosigkeit wird spürbar und erschreckende Fremdheit der Generationen. Eine Lehrerin gesteht ihre Ohnmacht angesichts mangelnder Hilfsangebote für Kinder, die an den Rand der Gesellschaft zu geraten drohen: "Für die ist nichts da. Das macht mich fertig."

Die Jugendlichen - Neuntklässler einer Realschule - sprechen von ihrer Wahrnehmung des realen alltäglichen Gewaltpotenzials: "So etwas kann immer wieder passieren." Hinter den Fragen, die das Gespräch prägen, offenbart sich die Notlage Jugendlicher in westlichen Industriegesellschaften. Lösungen darf man hier freilich nicht erwarten. Sie einzufordern, könnte ein Anfang sein. Kommentar Seite 4

Nächste Vorstellung: 2. Februar, 19.30 Uhr, Quedlinburg