Neues Buch Neues Buch: Jana Hensel und Wolfgang Engler über die "Erfahrung ostdeutsch zu sein"

Halle (Saale) - Ostdeutschland, zum Ersten. Nirgendwo im Ostblock, zitiert Jana Hensel den Wiener Osteuropa-Historiker Philipp Ther, brach nach 1989 die Wirtschaft so stark ein wie in Ostdeutschland. Allein Bosnien und Herzegowina weisen ähnliche Zahlen auf - allerdings nach dem Jugoslawienkrieg. Laut Ther eine „Katastrophe, die in jedem anderen postkommunistischen Land massenhafte Proteste nach sich gezogen hätte.“
Ostdeutschland, zum Zweiten: In Leipzig, erinnert Jana Hensel einen Artikel der Wochenzeitung „Die Zeit“, besitzen nur zehn Prozent der Altansässigen eine Immobilie. 60 Prozent aller Neubauten wurden an Menschen verkauft, die nicht aus Leipzig kamen. 94 Prozent der Altbauten! Hensel: „Die Ostdeutschen wissen also, dass der Reichtum, den es beispielsweise in Form von Immobilien auf dem Gebiet Ostdeutschlands durchaus gibt, ihnen selbst nicht gehört.“
Zwei Befunde unter vielen, die den Gesprächsband „Wer wir sind“ zu einer lohnenden Lektüre machen. Rechnet man zum wirtschaftlichen Zusammenbruch das demografische und gesellschaftliche Beben hinzu, das mit diesem zwangsläufig einherlief - 1989 war der Osten deutlich jünger als der Westen! -, hat man die „Erfahrung, ostdeutsch zu sein“, die das Buch formulieren will.
Es ist die Erfahrung, fremd zu sein im eigenen Haus. Ein millionenfaches Erleben, das aber unter dem Radar der gesamt-westdeutschen Medien bleibt. Dünkel- sieht nur Dunkeldeutschland. Kann sich das ändern?
„Wer wir sind“ - Autoren blicken von Berlin aus auf den Osten
„Wer wir sind“. Das sind - der marketing-schräge Plural sei geschenkt - zwei Publizisten, die von Berlin aus auf den Osten blicken. Jana Hensel, 1977 in Leipzig geboren, Journalistin und Autorin des Bestsellers „Zonenkinder“. Wolfgang Engler, Dresdner vom Jahrgang 1952, Soziologe und emeritierter Rektor der Ostberliner Schauspielhochschule „Ernst Busch“, Autor einschlägiger Bücher wie „Die Ostdeutschen“. Beide Autoren hat der Aufbau Verlag an einen Tisch gesetzt, um ein publikumswirksames Buch herbeizureden.
Das gelingt in einigen Punkten: im Skizzieren des nie angemessen öffentlich zur Kenntnis genommenen gesellschaftlichen Ab- und Umbruchs im Osten; der in vielen Protesten summierten Wut, die der Zahl nach in den Nachwendejahren mehr Menschen auf die Straßen trieb als 1989/90; der Nichtrepräsentanz der Ostdeutschen in den medialen, gesellschaftlichen und politischen Instanzen der Republik.
„Wer wir sind“ - Autoren beschreiben „Emanzipation von rechts“
Eine als Entwertung erlebte Entfremdung, die sich heute auch nach rechts entlädt. Das begrüßen die Gesprächspartner nicht, beschreiben es aber zutreffend und wertfrei als eine „Emanzipationsbewegung von rechts“.
Hensel: „Ich halte den Ost-West-Konflikt für den eigentlich zentralen Konflikt bei Pegida.“ Was auch heißt: Bei Fortsetzung der Nichtbeachtung der konkreten ostdeutschen Situation ist ein moralisierendes Gespräch über die Ostdeutschen tendenziell demagogisch. Gesamt-westdeutsch findet dieses Gespräch nicht statt. Aber in diesem Buch.
„Wer wir sind“ - Buch erfordert viel Geduld vom Leser
Dessen Lektüre erfordert Geduld. Auf Seite 172 ist das Gespräch in der Sache beendet, da dreht es noch mehr als 100 Seiten weiter; häufig geht es zu wie auf Hoher See. Mit anrührender bibliografischer Korrektheit zählt Jana Hensel auf, was sie in Zeitungen gelesen hat. Wolfgang Engler holt zu seitenlangen soziologischen Deutungen aus, die Hensel schon einmal seufzen lassen: „Ich bin jetzt fix und fertig.“
Jana Hensel zeigt viel mitmenschliche Empathie, wird aber in ihren Einlassungen zur konkreten DDR - sie war zur „Wende“ 13 - vergnügungssteuerpflichtig. Wolfgang Engler hingegen neigt zu sozial-populistischer Zuspitzung und zur Nachsicht mit seiner eigenen Biografie. Unvermeidbar reden beide Diskutanten auch aneinander vorbei.
Wenn Engler, der sich als eine Art intellektueller Oppositioneller verstand und versteht, seinen SED-Eintritt erwähnt, ist das Hensel keine Nachfrage wert. Auch nicht, wenn er vom erlebten Solidarnosc-Polen um 1980 schwärmt. Was bedeutete das für einen Reise-Kader mit Parteibuch? Nicht nur hier wünschte man sich einen Moderator, der den lockeren Statement-Wechsel der zwei Alpha-Meinungsbildner zu einem Gespräch engführt.
„Wer wir sind“ - Hensel spricht vom „Starren auf die DDR“
Wenn Engler die DDR einerseits als eine vom Eigentum losgelöste Gesellschaft idyllisiert, andererseits beide Autoren meinen, man solle, um den Osten zu begreifen, nicht mehr auf die DDR blicken - Hensel spricht vom „nahezu besessenen Starren auf die DDR“ -, dann wird es abenteuerlich. Das eine gehört zum anderen: Wo und wie ein vor 1970 geborener Ostler heute im Osten lebt und arbeitet, hängt mit in der DDR gefallenen Entscheidungen zusammen. Man müsste auch über die SED reden, die immerhin 2,3 Millionen Mitglieder hatte, so viele wie Sachsen-Anhalt Einwohner. Das Gespräch darüber war von Westen aus unerwünscht. Nun soll es das auch von Osten her sein?
Der Umstand, dass den Autoren die unmittelbare Ost-Erfahrung fehlt, gibt dem Ton des Buches etwas Leitartikelndes. Man spricht von Berlin aus über die „neuen Länder“ wie der Westen über die DDR. Die demografisch gekippten Mittelstädte, die sozial entsicherten Milieus, die verödenden Parteien und Kirchen, die mehr verwaltenden als gestaltenden Landesregierungen, die West-Hegemonie: Wie lebt man damit vor Ort? Kein Befund.
„Wer wir sind“ - eigene Urteile der Autoren werden selten problematisiert
Zitiert wird, was passt. Ihre Urteile problematisieren die Autoren selten. Nicht einmal Jana Hensel, die für „Die Zeit im Osten“ schreibt, die ausschließlich im Osten erscheint. Sozusagen als publizistische Buschzulage der Hamburger Wochenzeitung, die an der Mittelelbe kaum gelesen wird. Es trifft auf Journalisten und Politiker zu: Jeder, der beruflich über Ostdeutschland redet, ist nicht nur Teil der Lösung.
Die ist von Westen her nicht zu erwarten. „Vor ein paar Jahren“, sagt Jana Hensel, „diskutierte ich mit dem Ressortleiter einer Tageszeitung darüber, warum es so wenige migrantische und ostdeutsche Redakteure in den großen Tageszeitungen gibt. Er sagte zu mir, ja, migrantische Stimmen bräuchte es, da gebe er mir recht. Aber auf ostdeutsche Redakteure könnte man verzichten.“
Das muss nicht beklagt, sondern zur Kenntnis genommen werden. Die Diskussion über den Osten ist von Osten aus in den Gang zu bringen. Das Buch kann als ein Beschleuniger dienen. Hätte es schlanke 100 statt 288 redseliger Seiten, es würde von Hand zu Hand gehen.
(mz)