Nachruf auf Hans-Ulrich Wehler Nachruf auf Hans-Ulrich Wehler: Lust an der Kontroverse

Köln - Immer streitbar, immer mit Lust an der Kontroverse. Zuletzt war der deutsche Historiker Hans-Ulrich Wehler noch seinem australischen Kollegen Christopher Clark kräftig in die Parade gefahren. Clark hatte aus seiner Sicht die Kriegsschuld der Deutschen in seinem Buch „Die Schlafwandler“ zu wenig in den Vordergrund gestellt. Für Wehler war das ein Rückfall in die Zeiten der 20er Jahre, als alle europäischen Staaten im Nachgang des großen Krieges von 1914 bis 1918 behauptete, man sei mehr oder weniger in den Waffengang hineingeschlittert. Lloyd George war es, der dieses Wort geprägt hatte. Für Wehler ein Reizwort. Clark werfe die Forschung, sagte Wehler dem „Kölner Stadt-Anzeiger“, um Jahre zurück.
Wehler ist einer der einflussreichsten Historiker der Bundesrepublik gewesen. Seine fünf Bände umfassende „Deutsche Gesellschaftsgeschichte“ ist das Fundament der von ihm gegründeten sozialgeschichtlichen Schule. Schon 2011 war Wehler schwer erkrankt. Der passionierte Sportler wollte anschließend sehen, „was ich noch so drauf habe“, sagte er im Gespräch. Und er hatte einiges drauf. Ruhelos konzentrierte er sich fortan auf soziale Ungleichheit besonders in Deutschland, die in seiner Gesellschaftsgeschichte eine eigene Kategorie historischer Deutung einnimmt. In Deutschland erkannte er ein regelrechtes System der Ungleichheit: „Es ist eine verblüffende Starrheit“, sagte er.
Hellsichtig nahm er auch die Demokratiekrisen im Süden Europas im Zuge der Finanzkrise von 2008 vorweg und forderte eine Stärkung der Europäischen Union. Den Glauben den alten Kontinent hat er bis zum Schluss nicht verloren. „Europa besitze eine Ausstattung und ein Ressourcenfundus an Menschen, die was leisten können.“ Den Vergleich zu den USA und China müsse es nicht scheuen.
Gegen einen EU-Beitritt der Türkei
Schon vorher hatte er sich kritisch mit den in Deutschland lebenden Türken auseinander gesetzt, die er für nicht integrierbar hielt, eine Haltung, die ihm viel Kritik einbrachte. Mit Vehemenz wehrte er sich auch gegen einen Beitritt der Türken in die EU.
Die großen Debatten waren seine Passion. Auch im deutschen Historikerstreit der 1980er Jahre bezog er eindeutig Stellung gegen eine Relativierung der deutschen Kriegsschuld.
Wehler wurde 1931 in Freudenberg bei Siegen geboren. Er wuchs in der oberbergischen Stadt Gummersbach auf und war der Vetter von Gerhard Kienbaum, dem Gründer der gleichnamigen Unternehmensberatung. Zu jener Zeit wuchs indiesem Ort auch Jürgen Habermas auf, der bedeutendste deutsche Gegenwartsphilosoph, auf den er in der Hitlerjugend traf. Die Stadt beschrieb er einmal so: „Gummersbach ist eine Kleinstadt in einem kargen Winkel von Rheinpreußen, 40 km östlich von Köln, wo sich das ganze Leben um den Sport, den VfL Gummersbach drehte.“
In der Schule war er an Naturwissenschaftenvöllig desinteressiert. Den Weg zur Geschichte bahnte ihm ein alter DDP-Liberaler, den er als Geschichtslehrer in Gummersbach hatte. „Ihm war es gelungen, irgendwie zu überwintern, und nach dem Krieg wurde er für uns mit Mitte sechzig noch einmal reaktiviert.“
Passionierter Läufer
1952 nahm er das Studium in Köln auf. Vor allem der Doyen der Historiker, Theodor Schieder in Köln, hatte ihn fasziniert. „Doch bis zu meiner Doktorarbeit hatte ich eher meine 400- und 800-Meterläufe im Kopf. Ich war damals westdeutscher Meister und dann Studentenmeister“, erzählte Wehler. Ein Leben ohne drei bis vier Stunden nachmittags im Stadion hätte er sich nicht vorstellen können. Zudem spielte er am Wochenende noch als Mittelläufer im Feldhandball beim VfL Gummersbach.
Wehler erhielt zu Studienbeginn ein Fullbright Stipendium und ging in den USA, um weiter zu studieren. Er kam an die Ohio University im Mittleren Westen der USA. Wehler befasste sich dort mit amerikanischer Geschichte. Später als Professor schrieb er ein exzellentes Buch über die Geschichte der amerikanischen Außenpolitik. Nach dem Jahr ging es nun nicht karrierebewusst für Wehler weiter. Er hatte anderes im Sinn und ging nach Kalifornien, „wo ich ein halbes Jahr lang als Schweißer und Lastwagenfahrer arbeitete“. So habe er Amerika von unten kennengelernt.
Er fuhr auch unter falschem Namen Autos von Detroit nach Los Angelos, bis man ihm mitteilte, dass er das Land verlassen musste. „Ich packte meine Tasche und fuhr per Anhalter in drei Tagen und drei Nächten von L.A. bis New York, wo ich pünktlich am Flughafen ankam. Das halte ich immer noch für heroisch - fast ohne Schlaf.“
Gründer der "Bielefelder Schule"
Sein Weg an die Spitze der Historikerzunft war alles andere als einfach. Wehler wurde an der Uni Köln promoviert. Seine Habilitationsschrift wurde zunächst abgelehnt. Auch der nächste Versuch war kompliziert, man wollte ihn erneut durchfallen lassen und erkannte die Schrift nur an, glaubte Wehler später, weil man seinem Lehrer Theodor Schieder nicht bloßstellen wollte. „Ich war noch zwei Jahre als Privatdozent in Köln. Danach wurde ich dreizehnmal bei Bewerbungen abgeschossen, bevor ich nach Berlin kam.“
Dort lehrte er an der FU Berlin, bis er 1971 einen Ruf an die Universität Bielefeld bekam. Dort lehrte er bis zu seiner Emeritierung und begründete die „Bielefelder Schule“. Ihr Ziel bestand darin, die Geschichtswissenschaft für die Sozialwissenschaften, also der Soziologie und Wirtschaftswissenschaften zu öffnen. Diese neue Richtung war nicht allein erkenntnisleitend ein Gewinn.Wehler traf damit, wie er einmal augenzwinkernd in einem persönlichen Gespräch mitteilte, auch den Geist seiner Zeit.
In seiner „Deutschen Gesellschaftsgeschichte“ ist Wehler seinem von Max Weber inspirierten Ansatz stetes treu geblieben; er ordnet das Material nach den Leitachsen Wirtschaft, sozialer Ungleichheit, politischer Herrschaft und Kultur. Trotz seiner scharfen Kritik an „kulturalistischen“ Strömungen hat Wehler in den letzten Jahrzehnten durchaus neue Impulse aufgenommen; so berücksichtigt er die Geschlechterdimension betont stärker als früher.
Für sein Wirken erhielt Wehler zahlreiche Auszeichnungen. Sein Werk steht gleichbedeutend mit dem anderer großer Historiker. Bereits am Samstag ist er im Alter von 82 Jahren in Bielefeld gestorben. Er hinterlässt seine Frau Renate.