1. MZ.de
  2. >
  3. Kultur
  4. >
  5. "Nachdenkseiten": "Nachdenkseiten": Die fragwürdige Anti-Lügenpresse-Front

"Nachdenkseiten" "Nachdenkseiten": Die fragwürdige Anti-Lügenpresse-Front

Von Steven Geyer 03.11.2015, 06:44
Machen Stimmung im Internet und auf Kundgebungen: Ken Jebsen (l.), Jürgen Elsässer (M.) und Albrecht Müller (r.).
Machen Stimmung im Internet und auf Kundgebungen: Ken Jebsen (l.), Jürgen Elsässer (M.) und Albrecht Müller (r.). Imago Lizenz

Lange war es eine Erfolgsgeschichte, die sich da im Internet abspielte. Zwei gestandene, einst einflussreiche Sozialdemokraten gründeten 2003 das Weblog „Nachdenkseiten“, um gegen den neoliberalen Zeitgeist und die Agenda-Politik der Schröder-SPD anzuschreiben: Albrecht Müller (77), unter Willy Brandt und Helmut Schmidt Planungschef im Bundeskanzleramt, sowie Wolfgang Lieb (71), einst Staatssekretär im NRW-Wissenschaftsministerium.

Das Weblog „Nachdenkseiten“ wurde 2003 von den Sozialdemokraten und Publizisten Albrecht Müller und Wolfgang Lieb gegründet, um dem neoliberalen Zeitgeist in Politik und Medien etwas entgegensetzen.

Ausgezeichnet mit dem Alternativen Medienpreis 2009, zählen sie heute mehr als 100.000 Besucher am Tag.

Co-Chef Lieb floh nun, da sich Müller seit der Krim-Krise Verschwörungstheoretikern wie Andreas von Bülow und Ken Jebsen nähert, die mit Rechten paktieren.

So sprach Bülow auf der Rechtsaußen-Konferenz des Compact-Magazins, Jebsen interviewte den rechten Autor Ulfkotte, Compact-Chef Elsässer, aber auch Müller.

Schnell wurden die „Nachdenkseiten“ zur wichtigen Adresse für linke Gewerkschafter, Genossen und Globalisierungskritiker. Sie seien „ein gutes und sehr erfolgreiches Stück linker Gegenöffentlichkeit“, lobte der Publizist Wolfgang Storz (61), Ex-Chefredakteur der Frankfurter Rundschau, jüngst. Jetzt meldete Müller sogar, er erreiche inzwischen rund 109.000, bisweilen 150.000 Besucher am Tag. Damit läge der Blog auf Augenhöhe mit vielen Websites von Regionalzeitungen.

Allerdings: Mit der wachsenden Reichweite, die im letzten Jahr „beachtlich gestiegen“ sei, verteidigte Müller sich. Denn gerade hatte er mit seinem neuen Kurs nach zwölf Jahren Zusammenarbeit seinen Co-Herausgeber Lieb vertrieben. „Meinem Verständnis von Überzeugungsarbeit entspricht es nicht, wenn man Menschen mit konträrer Meinung als ‚gekauft‘, ‚nicht unabhängig‘, als ‚Agenten der US-Eliten‘, als ‚Einflussagenten‘“ beschimpfe, schrieb Lieb zum Abschied. Müller teile „die Welt moralisch in Freund und Feind“ und sehe als „Ursache nahezu allen Übels auf der Welt ‚einflussreiche Kräfte‘ (oft in den USA) oder undurchsichtige ‚finanzkräftige Gruppen‘ oder pauschal ‚die Eliten‘“. Statt zum Nachdenken rufe er nur noch zum „‚Kampf‘ gegen ‚die Herrschenden‘ und ‚die Medien‘“ auf.

Amazon-Charts voller Verschwörungstheoretiker

Das macht den Einzelfall prototypisch: Berauscht von steigenden Klickzahlen und Verkaufserfolgen wenden sich immer mehr Online-Projekte, Nischen-Publizisten und Polit-Aktivisten an ein wachsendes, diffuses Publikum. Das kommt aus gegensätzlichen politischen Lagern, ist aber geeint darin, dass es klassische Medien als „Lügenpresse“ oder „Nato-Netzwerk“ ablehnt, als „gleichgeschaltet“ oder „gekauft“ tituliert.

Längst sind die Amazon-Charts für „Deutsche Politik“, für die kein Buchhändler eine Vorauswahl trifft, dominiert von Titeln, die Verschwörungen und Schandtaten von Gutmenschen, Medien und Muslimen anprangern. Der rechtspopulistische Autor Udo Ulfkotte (55) warnt seit Jahren vor Islamisierung und einem Bürgerkrieg in Deutschland. Seine Anklage gegen „gekaufte Journalisten“ hat nun Fans bei Pegida wie bei den angeblich friedensbewegten „Mahnwachen“. Der einstige taz-Journalist Mathias Bröckers (61) verkauft heute seine Bestseller über den 11. September 2001 als Terrorwerk der US-Regierung und seine „Ansichten eines Putinverstehers“ an Linken- wie AfD-Anhänger.

Auch hinter Charlie-Hebdo-Morden vermuten sie die CIA

Wenn der Ex-Radiomoderator Ken Jebsen (49) – heute auf seinem eigenen Internetkanal sowie im Kreml-Sender „RT deutsch“ als Russlandverteidiger und Kritiker einer „amerikanisch-israelischen Lobby“ erfolgreich – schreibt, dass hinter 9/11 wie hinter dem Anschlag auf Charlie Hebdo wohl die Nato steckte, verbreiten das auch die „Nachdenkseiten“.

Auch Müllers alter SPD-Weggefährte Andreas von Bülow (78), von 1980 bis 1982 immerhin Bundesforschungsminister, schreibt seit 2001 Bestseller darüber, dass die US- und israelische Geheimdienste den 11. September inszenierten. Müller zitiert ihn wohlwollend, inklusive seiner These, Geheimdienste steckten auch hinter den Charlie-Hebdo-Morden.

„Compact“-Konferenz: Wo Merkel an Hitler erinnert

Dabei stört ihn nicht, dass Bülow heute im rechts-esoterischen Kopp-Verlag erscheint und enger Verbündeter von „Compact“ ist: Das rechtspopulistische Monatsmagazin mit dem Herz für Putin und Verschwörungstheorien ist ebenfalls ein Erfolgsprojekt. Sein Chefredakteur, der Ex-Linke Jürgen Elsässer, meldete gerade die neue Rekordauflage von 50.000 Heften.

Er verkündet offen, dass er dabei auch politische Ziele verfolgt: Elsässer unterstützt Pegida, auch als Redner, und will linke und rechte Systemgegner zur „Querfront“ vereinen. Am vorvergangenen Wochenende rief er in Berlin auf der „Compact“-Jahreskonferenz vor 1000 zahlenden Gästen zum Widerstand gegen Angela Merkel auf, deren Regierungsstil an Hitler erinnere – nur dass ihr Dogma kein Nationalsozialismus, sondern ein „Anti-Nationalsozialismus“ sei. Auf der Konferenz sprachen Rechtsaußen-Politiker und -aktivisten aus ganz Europa – und Andreas von Bülow, der die Flüchtlingsströme zum jüngsten Aktionsplan der CIA erklärte.

Heftige Kritik an Gewerkschaftsstiftung

Bei Jebsen findet man alle wieder, die an der neuen Gegenöffentlichkeit arbeiten: „KenFM“ hatte Bülow und Elsässer ebenso auf dem Expertensessel seiner Videointerviews wie Albrecht Müller, Udo Ulfkotte und Daniele Ganser – ein 9/11-Zweifler, der jüngst auf den „Nachdenkseiten“ die Schuld an der Ukraine-Krise allein dem Westen zuschreiben durfte. Deren Chef Müller verweist stolz auf sein Jebsen-Interview. Erwähnen jedoch Außenstehende die Verbindungen, macht er sie umgehend verächtlich – zuletzt ausgerechnet Wolfgang Storz, der für die gewerkschaftsnahe Otto-Brenner-Stiftung ein Dossier über die „Querfront“ schrieb.

Obwohl Storz die klassischen Medien aufruft, öfter abweichenden Meinungen Raum zu geben, ist Müllers Urteil unversöhnlich: Schon der Auftrag an Storz zeige, dass die Stiftung die „sozialen Verhältnisse beschönigt“ und sie „eine Außenstelle der (neoliberalen) Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“ sei.

Das eint die Macher der neuen Gegenöffentlichkeit: Hinter Fehlern, aber auch hinter Einschätzungen, die sie nicht teilen, sehen sie sofort Absprachen und Manipulationen, befohlen von ganz oben. Wer Fakten recherchiert, die nicht in ihr Weltbild passen, hat sie erfunden. Beobachtungen, die ihnen missfallen, sind „schon vorher ausgedacht“. Und wer anderer Meinung ist, lügt.

Nachtrag, 13. November 2015:

Der Chefredakteur des Magazins Compact, Jürgen Elsässer, wehrt sich inzwischen gegen Medienbeiträge über seine Zeitschrift und deren jüngste Jahreskonferenz. Nach der Berichterstattung der Berliner Zeitung legt Elsässer Wert auf die Feststellung, er habe auf der Compact-Konferenz „zwar aufgerufen, Merkel zu stoppen und zu stürzen, nicht jedoch durch bewaffneten Widerstand“. Elsässer hatte sich bei dem Vortrag sowie in früheren Reden und einem schriftlichen Aufruf auch an alle Polizisten und Soldaten gewandt. Sie seien nicht an Befehle „von oben“ gebunden und sollten eigenmächtig die Grenzen schützen: „Nur Ihr habt jetzt noch die Machtmittel“, Merkel zu stoppen, schrieb er.