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MZ im Gespräch mit Günter Kunert MZ im Gespräch mit Günter Kunert: Der Mensch wird nie besser

09.05.2003, 13:20
Günter Kunert (Foto: dpa)
Günter Kunert (Foto: dpa) dpa

Kaisbostel/MZ. - Wie kaum ein zweiter Schriftsteller seiner Generation widmet sich Günter Kunert in seinem Werk vielfältigen Exkursionen in die Geschichte, dem Dauerspannungsfeld von Traum, Propaganda und Wirklichkeit. Mit Kunert, der längst selbst ein Zeitzeuge von Rang ist, sprach unser Redakteur Christian Eger.

Herr Kunert, Sie verbrachten Ihre frühe Kindheit unter den Bedingungen des "Dritten Reiches". Gehörten die Bücher der "Verbrannten Dichter" zu Ihrer Lektüre?

Kunert: Ja, Gott sei dank! Meine Mutter kannte einen Antiquar, zu dem sie jede Woche hinfuhr. Dieser Mann war ein Antinazi, der dann unter der Theke die verbotenen Bücher hervorholte. So konnte ich als Kind zum Beispiel Kästner lesen.

Gibt es Werke, die den Terror der Nazis nicht überstanden haben?

Kunert: Eigentlich nicht. Ich glaube, all das, was die Nazis verbrannt und verboten haben, ist, wenn auch nicht mit der selben Wirkung oder in der selben Größenordnung, doch wiedergekehrt. Das heißt, sie bekommen heute auch in kleineren Verlagen Bücher, die damals einfach ins Feuer flogen. Verschwunden sind, ohne das sie verboten wurden, die Bücher von Nazischriftstellern. Die gibt es gar nicht mehr: Beumelburg zum Beispiel oder Dwingers antisemitischer Schmöker "Die Sünde wider das Blut". Diese Bücher sind untergegangen, weil sie dumm waren - und wahnsinnig schlecht geschrieben.

Sehen Sie Linien, die die Verfolgung von Büchern und Autoren vor 1945 mit den Repressionen im DDR-Literatursystem verbinden?

Kunert: Ja, denn überall dort, wo eine Ideologie das Regiment führt, werden die nicht passenden Bücher aussortiert. Ich habe es erlebt, dass man in Ostberlin aus einer Leihbibliothek Bücher kaufen konnte, die der Händler aussortieren musste. Ich habe viele Bücher aus den 20er Jahren erhalten, meist linke kritische Literatur.

Zwischen 1946 und 1952 betrug die Zahl der verbotenen Titel in der DDR 12500. Das war das Dreifache dessen, was im "Dritten Reich" verboten war. War die DDR ängstlicher als der NS-Staat?

Kunert: Ja, natürlich! Denn 90 Prozent der Deutschen waren für Hitler und haben sowieso nicht gelesen, und wenn sie gelesen haben, dann haben sie Marlitt gelesen oder die empfohlene Literatur.

Die DDR-Bürger waren aber zu 90Prozent gegen Herrn Ulbricht, und die haben überall in den Büchern eine Art seelische Stütze oder geistigen Widerstand gesucht, und darum war natürlich die Zahl der verbotenen Bücher größer - so wie übrigens auch die Zahl der Stasi-Mitarbeiter in der DDR ungeheuerlich war. Es waren 90000 Festangestellte und 100000 Spitzel, während unter Hitler die Anzahl der Spitzel und der Geheimpolizisten gering war, weil das Volk ja so konform war. In Schleswig-Holstein zum Beispiel, wo ich lebe, gab es eine Gestapo-Leitstelle mit zehn Beamten - das war alles.

Hatten Sie selbst jemals das Bedürfnis, ein Buch zu verbieten oder gar zu vernichten?

Kunert: Nein, niemals! Man wirft Bücher nicht weg, man verbrennt sie nicht, bestenfalls bringt man sie zum Antiquar. Denn jedes Buch - egal, ob es uns passt oder nicht - ist auch ein Dokument seiner Zeit.

Auf der "Indizierungsliste der Bundesprüfstelle" von April 2002 finden sich 334Bücher, darunter Hitlers "Mein Kampf". Halten Sie solche Verbote für sinnvoll?

Kunert: Mit Büchern ist es wie mit Waffen: Wer eine Kalaschnikow will, bekommt sie auch und so bekommt man auch Hitlers "Mein Kampf". Aber schon unter Herrn Hitler hat dieses Buch keiner lesen wollen, nicht einmal die großen Parteigenossen, weil es so ein unsägliches, dickes Machwerk war. Wer das heute liest, muss wirklich einen Dachschaden haben.

Morgen jährt sich die Bücherverbrennung zum 70. Mal. Was soll uns dieser Tag bedeuten?

Kunert: Das einzige, was ich hoffen kann, ist, dass dieser Tag auf das Lesen verweist. Dass man sagen kann: Kinder, damals ist soviel verschwunden an wunderbaren, hochinteressanten Büchern, die eure Phantasie anregen, die mehr sind als nur bunte dumme Bilder!

Der Jahrestag wird absehbar mit einer Reihe von Reden gefeiert, in denen viel Gratis-Courage der Nachgeborenen walten wird. Meinen Sie, dass der Mensch in den vergangenen 70Jahren ein anderer, gar ein besserer geworden ist?

Kunert: Nein. Die Menschen werden nie besser und nie anders. Der Mensch ist ein seltsames, arriviertes Tier und ist nur gezähmt durch äußere Regeln. Und wo diese Regeln außer Kraft gesetzt sind, kommt die alte Bestie zu Tage.

Worauf sollten wir achten, wenn wir heute über die Zeitgenossen von gestern urteilen?

Kunert: Man sollte versuchen, sich selber ein bisschen zu reflektieren. Warum denke ich so, wie ich denke? Warum lese ich nicht das, was vielleicht wertvoll wäre? Warum ignoriere ich das? Aber das machen wahrscheinlich die wenigsten.