MZ im Gespräch mit dem Historiker Wolfram Pyta MZ im Gespräch mit dem Historiker Wolfram Pyta: «Es musste nicht so kommen»
Halle/MZ. - Herr Pyta, war Hindenburg der "Steigbügelhalter" Hitlers?
Wolfram Pyta: Der Begriff unterstellt, dass ein verfassungsmäßig nicht dazu Berufener Hitler zur Macht verholfen habe. Das ist absolut unzutreffend. Hitler ist den legalen Weg gegangen. Und der Reichspräsident war die einzige Instanz, die den Reichskanzler ernennen konnte. Man muss es heute immer wieder sagen: Die Weimarer Republik war keine parlamentarische, sondern eine semipräsidentielle Demokratie. Hier lief keine wichtige Personalentscheidung ohne den Präsidenten.
Warum ernannte Hindenburg Hitler zum Reichskanzler?
Pyta: Hindenburg lässt sich in seinen politischen Grundüberzeugungen von einem zentralen Ziel leiten: Das ist die Herstellung der sogenannten Volksgemeinschaft. Ihm geht es um ein größtmögliches Maß an Einigkeit der aus seiner Sicht zerrissenen Nation. Diese Volksgemeinschaft schließt diejenigen Kräfte aus, die aus Hindenburgs Sicht nicht national eingestellt sind: Kommunisten, Sozialdemokraten, von der Tendenz her auch der politische Katholizismus, der als ein verlängerter Arm Roms angesehen wird.
Die nationale Integration lässt sich aus Hindenburgs Sicht nur mit den sich selbst als national bezeichnenden Kräften verwirklichen. Diese Kräfte haben nur das eine Problem: Die Rechte ist heillos zersplittert. Die "Harzburger Front" ist eine pure Fiktion. Doch die NSDAP ist durch freie, gleiche, geheime Wahlen zur stärksten Partei in Deutschland geworden. Aus Hindenburgs Sicht führt kein Weg daran vorbei, die NSDAP in die Regierung mit aufzunehmen, wenn er diesem Ziel treu bleiben will. Nur in einer Paketlösung zusammen mit der bürgerlichen Rechten sind die Nationalsozialisten für Hindenburg akzeptabel, aber als regierungsfähig gelten sie ihm schon seit dem zehnten Oktober 1931.
Offenbar war auch Hitler für Hindenburg akzeptabel. Warum?
Pyta: Erstens ist er der Anführer der stärksten politischen Kraft in Deutschland und der stärksten politischen Kraft im nationalen Lager. Zweitens hat er eine soldatische Erfahrung als Frontkämpfer vorzuweisen. Das gilt Hindenburg als ein Beweis nationaler Gesinnung.
Hat sich Hindenburg dem politische Mehrheitswillen gebeugt?
Pyta: Das kann man nicht sagen, denn die Weimarer Republik ist ja keine parlamentarische Demokratie, wo mit einem gewissen Automatismus der Anführer der stärksten Partei im Reichstag mit dem Amt des Regierungschefs beauftragt wird. Der 30. Januar 1933 markiert den Abschied Hindenburgs von einer präsidialen Form der Regierung. Vor einer möglichen autoritären Lösung der politischen Krise schreckt Hindenburg zurück: nämlich einer Art verkappter Militärdiktatur mit Hilfe der Reichswehr, die aber den Rechtsstaat bewahrt und die Möglichkeit zur Wiederherstellung demokratischer Verhältnisse eröffnet hätte.
Was lässt Hindenburg zurückschrecken. Sein Alter? Er war 84.
Pyta: Allein die Tatsache, dass dieser Weg verfassungspolitisch riskant gewesen wäre. Er will nicht in die politische Schusslinie geraten. Hindenburg achtet stets darauf, dass seine persönliche Autorität und der Mythos um seine Gestalt keinen Schaden nehmen.
Sie schreiben: "Hindenburg wollte herrschen, aber nicht regieren". Im Fall einer Militärherrschaft hätte er regieren müssen.
Pyta: Ja, er hätte sich sozusagen vom Feldherrenhügel herab in den politischen Schützengraben begeben müssen. Das wollte er nicht.
Was macht das Ermächtigungsgesetz für Hindenburg tolerierbar?
Pyta: Das Ermächtigungsgesetz bedeutet auch die Entmachtung des Reichspräsidenten. Es bietet aber aus Hindenburgs Sicht die verlockende Möglichkeit, die Volksgemeinschaft unter Ausschaltung der politischen Gegner mit autoritären, dabei aber formal legalen Mitteln zu stiften. Und das bei Zustimmung jener politischen Kräfte, auf die es ihm ankommt.
Insofern ist die Reichstagswahl am 5. März 1933 ganz wichtig. Hindenburg bangt um den Verlauf der Wahl, weil mit dieser Wahl auch seine Personalentscheidung zur Abstimmung steht. Das deutsche Volk hat mit etwa 44 Prozent die NSDAP zur weitaus stärksten Partei gemacht. Eine große Welle der nationalen Einheit geht durch weite Teile der deutschen Gesellschaft, der sich dann auch bei der Zustimmung zum Ermächtigungsgesetz der politische Katholizismus und die Liberalen nicht verschließen. Hiermit ist aus Hindenburgs Sicht die politische Idealkonstellation erreicht.
Immer wieder ist zu hören, Hindenburg sei nur ein Werkzeug politischer, vor allem wirtschaftlicher Kräfte gewesen.
Pyta: Das ist eine These, die nicht dadurch richtiger wird, dass sie seit Jahrzehnten wiederholt wird. Es gibt schlichtweg keine Quellen für diese Behauptung. Seit 1914 hat Hindenburg eine auf seine Person zugeschnittene Form von Herrschaft etabliert. Er hat ein Talent, Leute an sich zu binden, von denen er sich relativ leicht wieder trennt, wenn sie ihre Schuldigkeit getan haben. In seinen Entscheidungen ist er vollständig autonom.
Andere sagen, er sei um 1933 nicht mehr auf der Höhe seiner geistigen Leistungskraft gewesen.
Pyta: Im Gegenteil. Sein Berliner Hausarzt attestiert ihm eine für sein Alter hervorragende Konstitution. Es gibt keine Zeichen von Senilität.
War Hitlers Kanzlerschaft unumgänglich?
Pyta: Nein, es musste nicht so kommen. Hätte das deutsche Volk zum Beispiel bei den Reichstagswahlen am 6. November 1932 die Nationalsozialisten mit einem Minus von 15 Prozent in den Keller geschickt, dann wäre der Anspruch Hitlers auf die Reichskanzlerschaft verwirkt gewesen.
Hindenburg hat den Kaiser 1918 ins Exil geschickt. Er hat dem Versailler Vertrag zugestimmt. Alles Einsätze, die er im nachhinein versteckte. War er ein politischer Falschspieler?
Pyta: Was heißt politischer Falschspieler? Er war einfach clever. Und ein begabter Geschichtspolitiker. Dazu gehört, dass man die Deutungshoheit erringt über das, was man getan hat, dass die eigene Reputation nicht angekratzt wird. Hindenburg ist es bis zur Besetzung des Reichsarchivs gelungen, sich sozusagen kugelfest zu machen.