MZ-Debatte MZ-Debatte: Ist der Klick der wahre Kick?
HALLE/MZ. - Wichtig war ihnen, dass es genau die Art Geschichte war, die die Leute auf der Suche nach anspruchsloser Zerstreuung gerne anklicken. Und es musste nicht bei einem Klick bleiben. Bild.de zum Beispiel illustrierte den vermeintlichen Marathon mit einer Aufstellung "In diesen US-Bundesstaaten hatte Eva Mendes Sex" zum einzeln Durchklicken. Auf jeder Seite stand ein Name, von Alabama bis Wyoming, nach fünfzig Klicks hatte der Leser sie alle beisammen: die Vereinigten Staaten von Amerika.
Es war einer der absurderen Auswüchse eines Diktates, dem sich die meisten Internet-Ableger der deutschen Medien unterworfen haben: um jeden Preis Klicks zu generieren. Wenn Experten eine Rangfolge über den Grad der Korruption in den 180 Ländern der Welt veröffentlichen, produziert "Welt Online" daraus keine Tabelle, sondern 180 Seiten, auf denen jeweils ein Ländername steht. Wenn ein Video auftaucht, das jemanden nackt zeigt, bei dem es sich vielleicht um Britney Spears handeln könnte, ergänzt das Online-Angebot der "Rheinischen Post" das um nicht weniger als sieben Fotostrecken mit Bildern aus dem bewegten Leben der Sängerin - oder von Künstlern, die irgendwann irgendwie etwas mit ihr gemein hatten.
Fluch des Online-Journalismus
Es liegt ein Fluch auf dem Online-Journalismus, und er heißt "Page Impression". Das ist eine der offiziellen Messgrößen, mit der die Internetseiten um die Gunst der Werbewirtschaft kämpfen. Erfolg wird dabei mit der Zahl der Seitenabrufe gleichgesetzt, die ein Angebot produziert. Das wirkt auf den ersten Blick wie eine unbestechliche Abbildung des Leserinteresses. Aber paradoxerweise dient es nicht dazu, Qualität zu fördern, im Gegenteil. Die Fixierung auf die Quote führt zu einer grenzenlosen Boulevardisierung des Online-Journalismus. Jede Seite, die darauf verzichtet, irgendeine Schein-Nachricht über Paris Hilton zu vermelden, verzichtet damit unmittelbar auf Klicks. Jede überspitzte Überschrift, die zum Klicken animiert, wird belohnt - auch wenn der Artikel selbst sie nicht trägt. Langfristig ist das keine Strategie, die zur Glaubwürdigkeit des Angebotes beiträgt, aber in schlechten Zeiten wie diesen können sich nur wenige leisten, das nicht dem kurzfristigen Erfolg unterzuordnen.
Die Geschichte, die mit einer 50-teiligen Bildergalerie illustriert werden kann, zählt um ein vielfaches mehr als der fundierte, gut geschriebene Artikel, der so gut ist, dass er von vielen bis zu Ende gelesen wird - aber dabei nur einen einzigen Klick produziert hat.
Es gibt Bestrebungen, wegzukommen von der Währung der "Page Impression" und sie zu ersetzen oder mindestens zu ergänzen durch die Messung der Zeit, die ein Leser auf einer Seite verbringt und realistischer auch die tatsächliche Qualität von Artikeln abbilden würde, aber das ist noch ein weiter Weg. Die Zukunft des Journalismus liegt im Internet, und vor allem jüngere Zielgruppen informieren sich heute schon bevorzugt online.
Rennen um Marktposition
Aber die Möglichkeiten, dort mit Journalismus Geld zu verdienen, sind immer noch sehr begrenzt. Deshalb ist das Rennen um die beste Position auf diesem Medienmarkt der Zukunft zur Zeit nur in Ausnahmefällen ein Qualitätswettbewerb - oft aber ein Wettbewerb darum, wie man mit möglichst geringen Kosten und niedrigem Aufwand eine möglichst hohe Reichweite erzielt. Dass unter solchem Quoten- und Rendite-Druck guter Journalismus entsteht und nicht nur billige Unterhaltung, ist unwahrscheinlich.
Der Autor Stefan Niggemeier (u. a. Süddeutsche Zeitung, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung) gewann den Grimme-Online-Award und ist Journalist des Jahres 2007.