Musik Musik: Stadt Wien erbt den Nachlass von Marcel Prawy

Wien/dpa. - «Annie get Your Gun» steht auf einer großen gelben Plastiktüte, in einer anderen steckt ein Brief von Leonard Bernstein. Die geräumige Villen-Etage im Wiener Bezirk Döbling quillt über von Einkaufstüten, in denen wahre Schätze lagern: Fotos und Notizen von Musikern, wissenschaftliche Essays, ein Tintenfass von Gustav Mahler. Akribisch gesammelt vom Musikkenner Marcel Prawy, der vor einem halben Jahr im Alter von 91 Jahren gestorben ist - und aufbewahrt in seinem sprichwörtlich gewordenen Sackerl-Archiv. Jetzt erbt die Stadt Wien die Sammlung und schickt ihre Archivare auf Forschungsreise durch fast ein Jahrhundert Musikgeschichte in Plastiktüten.
Das Sackerl-Archiv des leidenschaftlichen Musikkenners war schon zu Lebzeiten legendär. Prawy, der als Marcel Horace Frydman, Ritter von Prawy am 29. 12. 1911 in Wien geboren wurde, studierte zwar zunächst standesgemäß Jura - dann aber schloss er noch ein Musikstudium beim Komponisten Egon Wellesz an, wurde Privatsekretär des Sängers Jan Kiepura und machte Oper, Musical und Operette zu seinem Lebensinhalt. Er emigrierte in der Nazi-Zeit, ging nach Amerika und schloss dort Freundschaft mit Leonard Bernstein. Auf zahlreichen Reisen und in persönlicher Bekanntschaft mit Musikern sammelte er einen unvergleichlichen Erfahrungsschatz. Alles, was ihm einen zweiten Blick wert schien, bewahrte er auf - von Gesprächsnotizen über persönliche Dokumente und Bilder bis hin zu zahlreichen Essays aus eigener Hand und Unmengen von Programmheften. In Plastiktüten.
Als amerikanischer Kulturoffizier kehrte er nach Österreich zurück und erwarb sich durch seine gewaltige Kennerschaft rasch unbestrittene Autorität in der österreichischen Musikszene. Als eloquenter und humorvoller Erzähler war der Professor, wie er bald genannt wurde, beliebter Gast in Diskussionssendungen und ein einflussreicher Kommentator. Mit seinen pointierten Beschreibungen und lebensnahen Urteilen brachte er einem breiten Publikum das aktuelle Musikgeschehen näher und wurde zum Opernführer der Nation. Dass der freundlich und dennoch bestimmt auftretende Herr stets korrekt und elegant gekleidet in der Öffentlichkeit erschien, hatte er Freunden zu verdanken.
Ihm selbst lagen die Dinge des Alltags fern. Koffer vergaß er oft irgendwo, in seiner Wohnung stapeln sich originalverpackte Wäsche und Hemden. Allein in seiner Dokumentensammlung herrschte ein strenges, wenn auch nur ihm selbst bekanntes System. Die Sackerl lagern Stück an Stück auf Regalen, fein säuberlich mit Filzstift beschriftet. Prawy nutzte nur weiße oder gelbe Tragetaschen, die er deutlich lesbar kennzeichnen konnte. An der Kopfseite der Regale ist mit Klebstreifen eine handgeschriebene Liste angebracht, auf der die Themen verzeichnet sind.
Das in mehreren tausend Tüten gesammelte Wissen gewann allmählich Überhand in der geräumigen Wohnung. Die Sackerln breiteten sich von Büro und Musikzimmer über Wohn- und Schlafzimmer bis hin in die Küche aus. Prawy selbst gab sich schon vor einigen Jahren seinem Lebenswerk geschlagen, nutzte die Villa nur mehr als Archiv und lebte selbst im Hotel Sacher gegenüber der Staatsoper. Von der Fülle des Materials sahen sich nun auch die Erben überfordert. Die Vermieterin hatte bereits die Räumungsklage eingereicht, die Sammlung drohte im Müllschlucker zu verschwinden.
Alles musste nun sehr schnell gehen, erklärte die Schauspielerin und Weggefährtin des Professors, Senta Wengraf. Die Stadt Wien konnte nun sicherstellen, dass die Dokumente rechtzeitig gerettet und seriös aufbereitet werden; für diese Zusicherung erhielt sie den gesamten Nachlass als Geschenk. Die Sammlung soll nun eine neue Heimat in der Landesbibliothek bekommen. Ob in der literarischen Abteilung neben Nestroy und Grillparzer oder in der Musiksammlung zwischen Ludwig van Beethoven und Johann Strauß, ist noch offen.
Wiens Kulturstadtrat Andreas Mailath-Pokorny stellt sogar in Aussicht, den Nachlass in einer neuen Ausstellungshalle zu präsentieren, die im kommenden Jahr eröffnet werden soll. Bis dahin werden Musikexperten und Archivare zusammen mit Prawys ehemaliger Sekretärin, die als Einzige einen ungefähren Einblick in das Sackerl-System hat, die Tüten sichten, auswerten und den Inhalt neu ordnen. Es werde Monate dauern, schätzen die Experten, bis das Musikarchiv in Plastiktüten entschlüsselt ist - von A wie das Musical «Annie get Your Gun» bis Z wie Zemlinsky.