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Moral als Slapstick: Pinocchio-Oper in Stuttgart

Von Bernward Loheide 04.02.2010, 09:10

Stuttgart/dpa. - Als Kaspar Hauser 1828 in Nürnberg auftauchte, hielten ihn die Menschen eher für einen Wolf als für einen Jungen. Dann dressierten sie das Findelkind, das scheinbar wie ein isoliertes Tier aufgewachsen war, damit es ein «richtiger Junge» wird, ein fügsames Mitglied der Gesellschaft.

Ähnlich ergeht es auch der Holzpuppe in der Familienoper «Pinocchios Abenteuer», deren Premiere in Stuttgart mit großem Applaus aufgenommen wurde: Alle wollen ihn sich so schnitzen, dass er ihnen passt.

Wer die Pflicht mit Lust vermischt, der handelt nicht tugendhaft, lehrte der große Philosoph Immanuel Kant - und die Pädagogen der Aufklärung folgten ihm. Schule als Tugendanstalt - das war kein Spaßland. Genau dahin aber zieht es den quirligen Pinocchio. «Pflicht - ein schrecklicheres Wort habe ich nie gehört», ruft er. «Ich will Spaß und Spiel. Schule - bäh.» Und so entflieht er immer mehr den Vorgaben, die ihm gemacht werden: Reinlichkeit, Fleiß, Sparsamkeit, Pünktlichkeit - alles bloße Sekundärtugenden.

Das ist es, was den Regisseur Markus Bothe an der Puppe fasziniert: «Dass sich eine Figur aus dem Erziehungsroman verselbstständigt und die Faszination des Anarchischen so groß wird.» Bothe zeigt die Hauptfigur (Tina Hörhold) als «ewiges Kind» in einer Traumwelt, die sich auch viele Erwachsene wünschen.

Der moralische Zeigefinger verwandelt sich da in eine lange Nase, die beim Lügen immer länger wird. Aber am Ende gelingt die Synthese von Pflicht und Neigung, wie auch Friedrich Schiller sie sich wünschte: ganz unter dem Vorzeichen der Kunst. Pinocchio wird ein «richtiger Junge», hängt nicht mehr als Marionette am Gängelband der Gesellschaft.

Große Kunst war es, was die Staatsoper in rascher Szenenfolge, mit spielfreudigen, stimmsicheren Sängern und viel Slapstick auf die Bühne zauberte, die wie ein begehbares Pop-up-Bilderbuch aufgefaltet wurde. Der britische Komponist Jonathan Dove hat die Pinocchio-Geschichte von Carlo Collodi aus dem 19. Jahrhundert vertont. Seine Musik vereint viele verschiedene Stile von der Romantik bis zur Minimal Music. Der musikalische Leiter David Parry dirigierte bereits die Uraufführung 2007 in Leeds (England) und im Chemnitzer Opernhaus. Nach Chemnitz ist Stuttgart die zweite Aufführung in Deutschland.