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Michael Angele und "Der letzte Zeitungsleser"

20.12.2016, 15:11
Michael Angeles Buch „Der letzte Zeitungsleser”. Foto: Galiani Berlin
Michael Angeles Buch „Der letzte Zeitungsleser”. Foto: Galiani Berlin Galiani Berlin

Berlin - Claus Peymann, derzeit Intendant des Berliner Ensembles, hat bis vor kurzem 10 bis 15 Zeitungen am Tag gelesen. „Ich gehe in der Pyjamahose oder im Morgenmantel zum Briefkasten und hole mir die Zeitungen und dann ziehe ich das durch.”

Er sei „ein ausgesprochener Zeitungsmensch”, das verbinde ihn mit Thomas Bernhard”, mit dem Peymann lange Jahre als sein „Hausautor” („Heldenplatz”) zusammengearbeitet hat. Der österreichische Dramatiker las seine Zeitungen vorwiegend in Cafés und fuhr auch mal Hunderte Kilometer umher, wenn er seine geliebte NZZ („Neue Zürcher Zeitung”) nicht am Ort bekam. Das alles und noch mehr über passionierte Zeitungsleser erfährt man in dem Buch-Essay „Der letzte Zeitungsleser” (Galiani Berlin).

Das Büchlein ist eine nachgetragene Liebe zur gedruckten Zeitung von dem Journalisten Michael Angele, der einst Mit-Chefredakteur der ersten deutschen Internetzeitung (Netzeitung) war. Es ist ein liebevoll-melancholischer und auch amüsanter Nachruf. Für den Autor verschwindet mit der gedruckten Zeitung (jedenfalls als tägliche Ausgabe) eine Kulturleistung, die auch durch eine bestimmte Lebensform der Leser gekennzeichnet gewesen sei.

Angele liefert mit seinem auch informativen Essay ganz nebenbei auch einen kleinen Exkurs in die Zeitungsgeschichte. Dabei erfährt man beispielsweise, dass die erste Boulevardzeitung der Welt von Heinrich von Kleist mit seinen „Berliner Abendblättern” gemacht worden sei. Auch habe das Zeitalter der Zeitungen einen „recht windigen Menschenschlag” hervorgebracht, der mit dem Begriff Journalist und erst recht dem des Feuilletonisten nicht genau umrissen sei und den der französische Schriftsteller des 19. Jahrhunderts, Honoré de Balzac, in seinem Roman mit dem vielsagenden Titel „Verlorene Illusionen” (im Zyklus „Die menschliche Komödie”) skizziert habe.

Und was das Feuilleton angeht, zitiert Angele in seinem Essay den bayerischen Autor und Dramatiker Franz Xaver Kroetz als Beispiel für die „Zurückhaltung” der meisten Leser gegenüber dem Kulturteil einer Zeitung. Er lese nur ganz wenig, sagt Kroetz dem Buchautor (vielleicht auch mit einem Augenzwinkern), vor allem „den Sportteil bissl, dann München, dann geht's weg. Dich, Franzi, les' ich fei net, weil du bist im Feuilleton, gell.”

Abgesehen von dem „sinnlichen Erlebnis” einer gedruckten Zeitung (wie auch eines Buches) - „es fühlt sich einfach gut an, eine Zeitung in der Hand zu halten” und beim Umblättern das Rascheln förmlich zu spüren - macht Angele auch eine interessante Beobachtung unter dem Blickwinkel der Globalisierung. Der Leser atme doch förmlich seine örtliche Umgebung, die „kosmopolitische Sphäre”, wenn er in New York die „New York Times”, in Paris „Le Monde”, in London den „Guardian” oder in Rom den „Corriere della Sera” und in Madrid „El Pais” kaufe. „Aber wir bleiben außen vor, wenn wir egal wo in der Welt in einem Internetcafé sitzen und 'Spiegel online' checken.”

Bei Peymann geht das zum Beispiel so weit, dass er in fremden Ländern auch Zeitungen kaufe, die er nicht lesen kann, wie in Tokio oder in Russland. Durch die Zeitung atme er den Geist einer Stadt ein. Zeitunglesen in Straßencafés oder an anderen öffentlichen Orten sei auch „eine hervorragende Tarnung für den Menschenbeobachter”, meint Autor Angele. „Man kann dabei sogar notieren, was man gehört hat, der andere glaubt ja, dass man eine interessante Stelle aus der Zeitung abschreibt.”

Angele verschweigt auch nicht eine dunkle Seite des leidenschaftlichen Zeitungslesers - „die Last des Pensums” und „das schöne Prinzip des Aufschubs”, das sich in sein Gegenteil verkehren und zur „Messie”-Seite der Zeitungssucht führen könne, alles aufzuheben und doch nie wieder in die Hand zu nehmen.

Auch eine „Blattkritik” liefert der Autor, wenn er die seiner Meinung nach teils absurden oder verkrampften Bemühungen mancher Zeitungen aufs Korn nimmt, mit „Erklärstücken” und „Infokästen” jüngere Leser zu gewinnen, „eine der deprimierendsten Erfindungen im Zeitungswesen”. In solchen Rubriken werde das weltpolitische Geschehen so abgehandelt, dass es ein Drittklässler auch noch verstehen soll. Zeitungen würden aber prinzipiell nicht von Kindern gelesen und würden auch nicht für sie gemacht.

Auch Peymann warnt davor, dass Zeitungen immer mehr Leser verlieren, wenn sie „ihr Gesicht verlieren”, zum Beispiel durch Fusionen mit austauschbaren Inhalten. Angeles melancholisch-trotziges Resümee lautet: „Die Zeitungssüchtigen sterben langsam aus, aber noch gibt es sie.”

- Michael Angele: Der letzte Zeitungsleser. Galiani Berlin, 160 Seiten, 16,00 Euro, ISBN 978-3-86971-128-7. (dpa)