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Medizingeschichte Medizingeschichte: Die Krankenakte Moses Mendelssohn

Von Christian Eger 21.12.2003, 17:21
Erlag dem «Schlagfluss»: Moses Mendelssohn (1729-1786).
Erlag dem «Schlagfluss»: Moses Mendelssohn (1729-1786). Repro/MZ Lizenz

Halle/MZ. - Berlin, den vierten Januar 1786: Der Arzt Marcus Herz - kein berühmter, aber als Verfasser des "Grundrisses aller medizinischen Wissenschaft" (1782) ein geachteter Mediziner - wird sieben Uhr morgens zu seinem Patienten Moses Mendelssohn gerufen. "Seine Augen hatten nicht mehr jenes durchdringende Feuer, sein Gesicht war eingefallen und blaß." Moses also, Lessing-Freund und Philosoph, der 1743 von seiner Geburtsstadt Dessau aus nach Berlin gezogen war, macht sich bereit zum Sterben. Sein Tod, ein "Schlagfluss aus Schwäche", wie Herz notieren wird, trifft ihn auf dem Sofa. Schlagfluss aus Schwäche? Die Frage, was Mendelssohn tatsächlich ums Leben brachte, treibt Historiker bis heute um. Robert Jütte, Jahrgang 1954, Leiter des Stuttgarter Instituts für Geschichte der Medizin, geht dem Fall im Zuge des Projektes "Jüdische Ärzte in der Haskala" - der jüdischen Aufklärung - nach. Angeregt von Eva J. Engel, Herausgeberin der historisch-kritischen Mendelssohn-Ausgabe. Bislang wertete Jütte u. a. nicht veröffentlichte Briefe von und an Mendelssohn aus, studierte die "Medicinischen Bermerkungen" (1774) des zeitweiligen Mendelssohn-Arztes Marcus Elieser Bloch. Dabei interessiere ihn, sagt Jütte der MZ, auch der Blick vom Patienten aus: Was kostete eine Behandlung - und mit welchen Folgen? Jütte, der erste Studien-Ergebnisse im September in Dessau vorstellte, legte nun in der "Neuen Zürcher Zeitung" einen ausgreifenden Essay vor. Demnach begannen Mendelssohns gesundheitliche Probleme 1771, den 42-Jährigen befiel ein "schweres Nervenleiden", das sich der allgemeinen Lesart nach einem übermäßigen Selbststudium verdankt haben soll. Moses, der vom geistigen Austausch lebte, sollten lang andauernde Unterhaltungen untersagt werden. Was er denn mache, wurde er gefragt, wenn er nicht denken dürfe? Moses: "Ich gehe ans Fenster und zähle die Ziegel auf meines Nachbarn Dache". Bereits der Mendelssohn-Biograf Alexander Altmann hatte versucht, der Krankheit einen modernen Namen zu geben. Er vermutete eine paroxysmale Tachykardie, also eine anfallsweise auftretende Herzrhythmusstörung, zu deren auffälligsten Symptomen subjektive Atemnot (Dyspnoe) und Schwindel zählen. Jütte indes hält Diagnosen im nachhinein für wenig hilfreich. Er lenkt den Blick auf die Behandlungskosten zu Zeiten als es noch keine Krankenversicherung gab. Allein in den Jahren von 1771 bis 1774 summierten sich Mendelssohns Ausgaben derart, dass er seinen Verleger um einen Vorschuss von 800 Taler bitten musste. Ein ärztlicher Hausbesuch, ermittelte Jütte, schlug mit einem Taler zu Buche: Das waren fünf Wochenlöhne einer Köchin. Ein Rezept kostete acht Groschen: zwei Wochenlöhne einer Köchin. Kuren inklusive, muss Moses ein Vermögen investiert haben. Auch wenn die Krankheit selbst im Dunkeln bleibt, darf man über deren Ursachen rätseln. Überanstrengung? Das "Kindermachen", das die "animalische Haushaltung mehr als Bücherschreiben" erschöpfe, wie der Philosophen-Kollege Hamann einwarf? "Schlagfluss aus Schwäche" notierte Herz. Eine Herzkreislauferkrankung, sagt Jütte der MZ, die als Schlaganfall gedeutet werden kann. Ein Schlag, von dem man nicht mehr aufstand. In der Berliner Medizinalstatistik von 1786 war Mendelssohn einer von 202 "Schlagfluss"-Toten. Kein Tod unter anderen. Neben Mendelssohn "zu entschlafen", war für Marcus Herz, der "heißeste Wunsch, den ich je gehabt und je haben werde".