Literatur Literatur: Die Welt des Oskar Matzerath
Berlin/dpa. - Der Literaturnobelpreisträger wirdaus seinem Roman lesen, der den bis dahin unbekannten Kaschuben ausDanzig 1959 in die erste Reihe der Weltliteratur katapultierte. Aufder Jubiläumsfeier diskutiert Grass mit seinem langjährigen LektorHelmut Frielinghaus und mit den literarischen Übersetzern BreonMitchell, Per Öhrgaard und Oili Suominen, die die «Blechtrommel» insEnglische, Dänische und Finnische neu übertragen haben.
«Zugegeben: ich bin Insasse einer Heil- und Pflegeanstalt, meinPfleger beobachtet mich, läßt mich kaum aus dem Auge; denn in der Türist ein Guckloch, und meines Pflegers Auge ist von jenem Braun,welches mich, den Blauäugigen, nicht durchschauen kann.» Dieserdoppelbödige Satz des kleinwüchsigen Romanhelden Oskar Matzerathsei «die Unabhängigkeitserklärung der deutschen Nachkriegsliteratur»gewesen, heißt es in der Ankündigung zu der Veranstaltung imLiterarischen Colloquium. «Der Verrückte stellt dem Leser die Frage,wieso er verrückt ist und nicht die Welt, in der er lebt.»
Für diesen Maßstab in der deutschen Gegenwartsliteratur sei Grassschließlich 1999 auch der Literaturnobelpreis verliehen worden.Akademie-Sekretär Horace Engdahl meinte in seiner Laudatio, Grass,dessen frühere Zugehörigkeit zur Waffen-SS allerdings erst 2006bekannt wurde, habe mit seiner literarischen Arbeit den «bösen Banngebrochen, der über Deutschlands Vergangenheit lastete». Der Roman«Die Blechtrommel» habe «die Wiedergeburt des deutschen Romans im 20.Jahrhundert» bedeutet, meinte Engdahl.
Als die «Blechtrommel» im Herbst 1959 auf der FrankfurterBuchmesse erschien, wurde der später von Volker Schlöndorff auchverfilmte Entwicklungsroman von manchen Kritikern (allerdings nichtvon Marcel Reich-Ranicki, was er später als Irrtum einräumte) als«Geniestreich» gefeiert: «Ein Glückstreffer! Eine hinreißendeZeitsatire, neben der die bisherigen Wunderkinderromane inDeutschland wie Schablonenprodukte unterernährter Normalverbrauchererscheinen.»
Der Lyriker und Bildhauer Grass hatte das Anfangskapitel aus der«Blechtrommel» bereits ein Jahr zuvor auf einer Tagung der Autoren-«Gruppe 47» im Gasthof «Adler» in Großholzleute im Allgäu vorgelesen.«Er sah verwegen aus, etwas heruntergekommen, wie mir schien,desperat wie ein bettelnder Zigeuner», erinnerte sich später der«Vater» der Gruppe 47, Hans Werner Richter, an diesen legendärenAuftritt des späteren Literaturnobelpreisträgers. Es war ein Auftrittmit Folgen. Der damals neuartige, vitale, saftig-bildhafte Erzählstilriss die Zuhörer sofort mit - es war wohl eine der eindrucksvollstenLesungen in der Geschichte der «Gruppe 47».
Der noch junge Grass konnte mit 5000 Mark (heute etwa 2500 Euro)Preisgeld nach Paris zurückreisen, wo er damals lebte, und seinenRoman fertigstellen. Nach dem sensationellen Erfolg der«Blechtrommel» rissen sich die deutschen Verlage um die meist nochjungen Autoren der «Gruppe 47» wie Martin Walser, Uwe Johnson,Heinrich Böll, Ingeborg Bachmann, Ilse Aichinger und Hans MagnusEnzensberger.