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Literatur Literatur: Die Stille nach dem Schuss von Bad Kleinen

Von Christian Eger 31.01.2005, 18:51

Halle/MZ. - Kein RAF-Roman

Christoph Hein hat nicht, wie dieser Tage gern kolportiert wird, einen "RAF-Roman" geschrieben. Der Fall des Terroristen Wolfgang Grams, der 1993 bei der versuchten Festnahme auf dem Bahnhof von Bad Kleinen zu Tode kam, liefert Hein das Material, nicht das Thema. Kein Leser wird etwas Neues oder nur neu Gedachtes über die "Rote Armee Fraktion" erfahren. Hein geht es um anderes: In welchem Verhältnis befindet sich das, was man "die Verhältnisse" nennt, zum einzelnen Bürger? Und wie der Bürger zu seinesgleichen?

Ob Oliver Zurek sich selbst erschossen hat oder von einem Polizisten getötet wurde, ist Gegenstand eines zähen Rechtsstreites, den Vater Zurek führt: Der Staat spricht von Selbstmord, Zurek von Totschlag. Die Schmauchspuren an Olivers Hand hätten Hinweise liefern können, wurden aber bei der Obduktion entfernt. Hein führt vor, wie Richard Zurek am Fakten deckelnden Kalkül seines alten Dienstherrn zu verzweifeln droht. Der Alte streitet für die ganze und nicht etwa nur für seine Wahrheit; kann diese nicht eindeutig ermittelt werden, sollte das genau so festgestellt sein. Der Staat aber will den Toten als Selbstmörder begreifen - schuldig bis zuletzt.

Von einer tief im Westen liegenden Kleinstadt aus wird das Personal des Romans aufgebaut: der Pfarrer, die Händler, die Kollegen am Ort. Sie alle haben eine Haltung zu dem Fall, der der Fall eines Bürgers und Mitmenschen ist. Die Linie der Haltungen zieht sich quer durch die Familie Zurek: Heiner sieht in Oliver trotz alledem seinen Bruder, Schwester Christin erkennt in ihm allein den entschlossenen Staatsfeind, dem auch posthum keine Fairness gebührt. Vater Zurek hält dagegen: "...von keinem Verbrecher und von keinem Terroristen ist Offenheit und Transparenz zu verlangen, aber von einem Staat sehr wohl, eben weil er dieses Monopol besitzt". Am Ende des Romans wird sich Vater Zurek bei einem Auftritt in seiner ehemaligen Schule von seinem Eid auf den Staat selbst entbinden. Er hatte den Fehler gemacht, wie sein Anwalt sich ausdrückt, den Begriff "Minister" wörtlich zu nehmen: als Diener und Helfer des Bürgers.

Aus all dem entwickelt Hein ein Zivildrama im Kammerton, das demjenigen als harmlos und bieder erscheinen mag, der die sinnbildliche und sittliche Ebene des Textes übersieht. Da ist das Motiv des Gartens, der nicht allein Oliver Zurek in der Kindheit blühte. So wie der biblische Garten Eden als der letzte heile Ort inmitten der gefallenen Schöpfung gilt (draußen liegt die Wüste, das "tohuwabohu"), bezeichnet der Garten bei Hein den Ort der Freiheit und Solidarität.

Garten in der Wüste

Der Staat, wo er sich selbst - und nicht der Gesellschaft - zum Wohle dient, ist dieser Garten nicht. Das hat wenig mit einer den Leser betörenden Action und viel mit einer Poetik der Erbauung und des Mitgefühls zu tun, die bereits in dem bei der Erzählerin Iris Murdoch geliehenen Buchtitel anklingt: "In seiner frühen Kindheit ein Garten".

Denn bei aller Selbstdarstellung und -vermarktung des Autors Christoph Hein als ein "Chronist seiner Zeit", darf man nicht übersehen, dass dieser Pfarrerssohn ein zutiefst protestantischer Schriftsteller ist. Hein steht für Werte, die nicht nur gefeiert, sondern durchgesetzt sein wollen. Der Staat tut das bei Hein nicht, doch auch jeder Einzelne läuft hier Gefahr, den sittlichen Ernst und damit die tiefere Heiterkeit zu verlieren. Hein fragt: In welchem Verhältnis steht jeder Einzelne zu der Bindung (oder Aufgabe), aus der heraus er lebt oder in die hinein er gestellt wurde?

Hein zeigt Entfremdungen in Serie: Christin, die ihren toten Bruder aus ihrem Leben streicht; den Schwiegersohn, der den Beruf allein am Einkommen misst; den Staat, der gegen die Schwachen, die er zu schützen hätte, seine Stärke ausspielt. Dass er sein Ethos nicht delegieren soll, erkennt Vater Zurek am Ende. Darüber verzweifelt er nicht, sondern lädt seine Ehefrau kurz entschlossen zum Essen ein - das ist dann mal eine sinnliche und nicht nur sittliche Pointe.