Leipziger Buchmesse Leipziger Buchmesse: Immer rauchen die Trümmer
Leipzig/MZ. - So bildeten die Veröffentlichungen aus Anlass des Gedenkjahres eine der thematischen Hauptstraßen, die durch die am Sonntag geschlossenen Messehallen führten. Wo noch bis vor zehn Jahren Regionalverlage mit Büchern aufwarteten, die das Konzentrations- oder Zwangsarbeiterlager in der Nachbarschaft recherchierten, liegen heute Stadtporträts mit dem Zusatz "in Trümmern" bereit. Die Heimatstadt im Bombenkrieg ist - nach der Wende weg von der kollektiv-pädagogischen hin zur individuell-konstatierenden Geschichtsschreibung - ein Thema mit Konjunktur. Das Tagebuch des Insel-Geschaftsführers zum Beispiel wird in einem Bildband des Leipziger Lehmstedt Verlages ("Leipzig in Trümmern", 296 Seiten, 19,90 Euro) zitiert.
Jeder ist ein Zeitzeuge
Neben der Trümmer- feierte in Leipzig die geschichtsschreibende "Führer"-Literatur erneut ihr kleines Fest. Was für die populären Medien die Formel "Kinder & Tiere" ist, sei für Buchmesse das Konzept "Hitler & Co." ätzte eine Zeitung. Also nicht nur die tatsächlich neue Horizonte erschließende Raubmord-Studie "Hitlers Volksstaat" (Götz Aly), sondern Trendbücher wie "Hitlers Bombe" (über angebliche deutsche Kernwaffentests 1945) und "Hitlers Berlin" - eine anreflektierte Sammlung all dessen, was das Verhältnis des Diktators zur Hauptstadt bestimmt hat.
Sven Felix Kellerhoff präsentierte das Berlin-Buch auf einem Podium des Berliner be.bra Verlages. Er habe zunächst gar nicht glauben wollen, sagte der 34-jährige Historiker, dass es das Buch zum Thema noch gar nicht geben soll - nun, da geht es den Autoren inzwischen wie den Lesern. Die verbreitete Meinung, dass Hitler Berlin gehasst habe (und umgekehrt), sei ein Vorurteil, hätten nun die Recherchen ergeben, teilte Kellerhoff mit. Er habe herausgefunden, dass Hitlers Verhältnis zu Berlin "extrem ambivalent" gewesen sei, dass "Hass und Faszination" parallel liefen - kurzum, hier wurde einmal mehr ausgestellt, was ein jeder Leser so ungenau auch selbst vermuten kann.
Ohnehin scheint das Amt des begehrten Augen- und Ohrenzeugen hierzulande vererbbar zu sein - es geht über auf die Kinder der Zeitzeugen oder die Ghostwriter der verstrickten Alten. Der Berliner Publizist Joachim Fest ("Gespräche mit Albert Speer", Rowohlt) war denn auch des öfteren in Leipzig anzutreffen - als eine Art Bauchredner für Hitlers Architekten und Rüstungsminister. Was man bis zu Speers Tod 1981 in Sachen Schuld und Verantwortung von diesem selbst nicht hat erfahren können, soll nun der tausenderste Talk Jahrzehnte danach enthüllen. Auch im Fall des Medien-Interesses an Speer - dessen 100. Geburtstag am Sonnabend mitten in die Messe fiel - drängen jene irrationalen Motive nach oben, die das auf Quote zielende Hitler-Bücher-Marketing fast durchweg bestimmen: Eine auch uneingestanden devote Lust an Größe, Macht und Grusel.
Ein Lachs im Pazifik
Letztere wirkt selbstverständlich nur dort, wo die Nähe zum Gegenstand mehr als dessen analytische Erhellung zählt - die anderen Beispiele gab es in Leipzig auch. Die Tagebücher des ukrainisch-jüdischen Rotarmisten Wladimir Gelfand (MZ vom 12.3.) zum Beispiel oder die Erinnerungen des Pariser Nuklearphysikers Pierre Radvanyi an seine Mutter Anna Seghers - beide Bücher im Aufbau-Verlag. Radvanyi las in der Reihe "Jüdische Lebenswelten" in der überfüllten Alten Nikolaischule. Es war eine "Fanny und Alexander"-nahe Welt, die der 78-Jährige zum Auftakt mit der Erinnerung an seinen Großvater beschwor - den Antiquitätenhändler Isidor Reiling in Mainz.
Eine Stunde las Radvanyi bis hin zum Tod seiner Mutter 1983 in Ostberlin. Dass er ihr von Lachsen erzählt habe, die gegen Ende ihres Lebens aus dem Pazifik zurück in die kleinen Flüsse ihrer Herkunft zurückkehrten, um dort zu sterben. "Wie gern wär' ich ein Lachs!", sagte ihm seine aus Mainz stammende Mutter. Gesellschaftsgeschichte, mit dem Herzen geschrieben.