Karten und Atlanten Karten und Atlanten: Die Welt aus Gotha
Halle/MZ. - Volker Streibel weiß Bescheid. Bei Günter Jauchs Millionenfrage wäre der Schwarzwälder mit dem kecken Oberlippenbärtchen garantiert ein idealer Telefon-Joker. In dem Falle etwa, wenn es um Stadt-Land-Fluss ginge. Denn auf geographischem Gebiet, da brilliert der 56-Jährige mit profunden Kenntnissen. Was kein Wunder ist. Schließlich war der gebürtige Karlsruher mal Gymnasiallehrer für Deutsch, Sport und - wie sich denken lässt - für Geographie. Bis es ihn eines Tages dorthin zog, wo Atlanten hergestellt werden.
Das war vor 27 Jahren. Damals stieg Volker Streibel beim Ernst Klett Schulbuchverlag in Stuttgart ein. Seit 1994 sitzt der agile Mann im thüringischen Gotha im Chefsessel des von Klett erworbenen Perthes-Verlags. Der übrigens versorgte zu Zeiten der deutschen Teilung als VEB Hermann Haack Geographisch-Kartographische Anstalt alle Schulen in der DDR mit Wandkarten für den Erdkundeunterricht. Die graublauen Haack-Atlanten aus Gotha waren in der Republik bekannt wie ein bunter Hund und steckten in jedem Ranzen. Heute produziert das reprivatisierte Traditionshaus, das sein 225-jähriges Firmenjubiläum feiert, Karten für die Welt. Geschätzt werden die Produkte aus Gotha in Spanien und Portugal ebenso wie in Skandinavien oder in den USA.
Der Hauptmarkt der Klett-Perthes Verlags GmbH, wie die Firma nach Besitzerwechsel und einigen Umbenennungen heute heißt, ist Deutschland. Und die Hauptprodukte sind Atlanten und kartographische Erzeugnisse. So kommen aus Gotha Schulwandkarten und -atlanten, Foliensätze und Piktogramme, interaktive Landkarten, digitale Produkte. "In der Vergangenheit war der Atlas eine Flachware. Heute können wir die Welt dank Multimedia dreidimensional abbilden", sagt Geschäftsführer Streibel. Beim Rundgang durch das Firmengebäude, in dem 20 Mitarbeiter bis zur Druckstufe alle Arbeiten übernehmen, macht das Andre Hempel am Computer deutlich. Der Geograph legt die CD-ROM aus dem neuen Haack Weltatlas ein, tippt den Code für den Online-Link - zahlreiche stehen auf den 226 Seiten des Kartenwerks - und mit Hilfe von Google Earth und ein paar Klicks saust man direkt zu einem Alpengletscher. "So sehen heute Forschungsreisen aus", lacht Streibel und erzählt, dass mit jedem gedruckten Atlas online auch Informationen, Bilder und Videos zu verschiedensten Themen abgefragt werden können.
Für Außenstehende mag Gotha nur ein verschlafenes Städtchen sein. Kartographen aber, so ist vom Wahl-Thüringer zu erfahren, gilt die ehemalige Residenzstadt des Herzogtums Sachsen-Coburg-Gotha durch die Aktivitäten des Justus Perthes Verlags als Geburtsort der modernen Kartographie. Die plastische Geländedarstellung, Punktsignaturen und topographische Farben, die heute Usus sind, entstanden im Thüringer Unternehmen, das im 19. Jahrhundert zum weltweit bedeutendsten Kartographie-Verlag mutierte.
Zwei Männer haben großen Anteil am Erfolg der Firma, die stets als Instanz für zuverlässige Informationen galt. Adolf Stieler war der eine. Sein Handatlas, ab 1817 zunächst in einigen Blättern erschienen und noch heute wegen seiner vielen Einträge der weltgrößte Atlas, wurde zum Inbegriff guter Kartographie. Der zweite hieß August Petermann, der wohl bekannteste Kartograph seiner Zeit. Seine "Mitteilungen aus Justus Perthes geographischer Anstalt" - 1885 erstmals erschienen - wurden zur erfolgreichsten deutschsprachigen geographischen Zeitschrift, in der sich Forschungsreisende austauschten. Kaum eine Expedition zog damals los, ohne sich in Gotha Anregungen zu holen, erzählt Streibel. Kein Forscherteam kehrte heim, ohne hier über die Resultate zu berichten. So strömten Daten und Skizzen zu Hauf zu Perthes und begründeten eine der größten kartographischen Sammlungen. Die übernahm das Land Thüringen 2003 vom Perthes-Erben. 185 000 Karten, 1 600 Kupferplatten, eine Fachbibliothek mit 120 000 Bänden und ein Archiv von 800 laufenden Metern, zählt Petra Weigel auf. Ein Teil der Kostbarkeiten war in schlechtem Zustand, ist von der Expertin der Universitäts- und Forschungsbibliothek Erfurt / Gotha zu erfahren. Eine Kartenreinigungsmaschine hilft jetzt bei der Aufarbeitung der Dokumente. Christian Kreienbrink zeigt, wie das geht. Der Restaurator legt eine Karte aufs Transportband und auf Knopfdruck wird im Innern der Anlage der Staub von zwei Jahrhunderten weggeblasen. Ein Großteil der Kostbarkeiten konnte so schon restauriert werden. Auch die Druckplatten aus Kupfer sind wieder sauber.
Apropos Kupfer. Die Kartenherstellung war aufwändig. Die Recherche auf ausgedehnten Forschungsreisen nicht mitgerechnet, dauerte eine Skizze eineinhalb Jahre. Zwei weitere Jahre brauchte der Kupferstecher, um in Negativschrift die Angaben ins Kupfer zu sticheln. "Vier Druckplatten waren nötig; für Gewässer, Gelände, Verortung und Beschriftung. Allenfalls 2 000 Abzüge konnten gemacht werden, dann war das Kupfer verzogen", beendet Geographie-Experte Streibel seinen Exkurs in die Vergangenheit und kehrt zurück ins multimediale Zeitalter.
Heute müssen die Gothaer Verlagsmitarbeiter keinen Stichel mehr in die Hand nehmen. Auch zu Forschungsreisen muss niemand aufbrechen. Die meisten Daten liefert das Internet. "Unsere Quellen sind z. B. Berichte von statistischen Ämtern oder Ministerien", sagt der 56-Jährige und erzählt, dass auf Basis der Lehrpläne für jedes Bundesland eine eigene Schulatlas-Ausgabe produziert wird. Nur die Schüler im kleinen Bremen müssen im Atlas der Niedersachsen blättern. Jede Schule kann wählen, aus welchem Verlag sie das Kartenwerk verwenden will. Denn Klett hat Konkurrenz. "Aber die belebt das Geschäft", freut sich Ex-Lehrer Streibel, "und treibt die Suche nach Produkten, die den Unterricht interessant machen, an."