1. MZ.de
  2. >
  3. Kultur
  4. >
  5. Jubiläum: Jubiläum: Der Dichter errichtet ein Haus der Politik und Poesie

Jubiläum Jubiläum: Der Dichter errichtet ein Haus der Politik und Poesie

Von Christian Eger 15.08.2008, 15:52

Halle/MZ. - 1959 hört eine junge Ärztin im tschechischen Aussig einige Verse Reiner Kunzes im Rundfunk der DDR. So sehr gefallen Elisabeth Littnerová die Zeilen, dass sie den Sender um die Zustellung eines Gedichtes bittet. Die Karte wird an Reiner Kunze nach Leipzig geschickt, so dass sich zwischen der jungen Ärztin und dem Dichter ein Briefwechsel entspinnt, der auf über 400 Briefe anwachsen soll, teilweise 25 Seiten lang.

Ein Briefwechsel über Staatsgrenzen hinweg, die zu dieser Zeit noch geschlossen sind. Der Dichter kennt die Adressatin nur von einem Foto, das sie als 17-Jährige zeigt. Am Telefon macht Kunze seiner Brieffreundin einen Heiratsantrag. 1961 wird in Aussig geheiratet, 1962 zieht man ins thüringische Greiz. Seit 1977 lebt das Paar, das eine Tochter hat, im niederbayrischen Obernzell, wo Reiner Kunze am Sonnabend 75 Jahre alt wird.

Die Radio-Anekdote ist drehbuchreif und sie führt mitten hinein in das Schaffen des Dichters, der noch 53 Jahre nach seinem Debüt ("Die Zukunft sitzt am Tische", mit Egon Günther im Mitteldeutschen Verlag) zu den meistgelesenen und wirkungsstärksten deutschen Dichtern zählt; erst im Spätsommer vergangenen Jahres erschien der autobiografisch grundierte Gedichtband "lindennacht". Die Liebe als Motiv, die Post als Metapher, die Zuneigung zum Böhmischen, die möglichst genaue Ansprache des Gegenübers: Allesamt Elemente der epigrammatischen Dichtung Kunzes, die sich bereits in der 1959er Briefwechselszene zeigen. Jenem Jahr, das der mit 16 in die SED eingetretene sächsische Bergarbeitersohn als sein "Jahr Null" bezeichnet. Kunze, der von 1951 bis 1955 Philosophie und Journalistik in Leipzig studierte hatte, wo er anschließend als Hilfsassistent lehrte, brach aus politischen Gründen seine Universitätslaufbahn ab.

1962 begann er das freiberufliche Schreiben; 1968 erfolgte der Austritt aus der SED, 1976 der Ausschluss aus dem Schriftstellerverband der DDR. Mit Gedichtbänden wie "brief mit blauem siegel" oder "zimmerlautstärke" sowie dem Prosaband "Die wunderbaren Jahre" schrieb Kunze nicht allein Literatur-, sondern auch Zeit- und Kulturgeschichte. Gemeinsam mit seiner Frau hat Kunze nun eine Stiftung gegründet, die zeigen soll, "wie im geteilten Deutschland die Mauer mitten durch den Menschen hindurchging". Der Dichter streitet gegen die Bagatellisierung des DDR-Systems: "Man müsste ja blind sein, wenn man keine Verharmlosung beobachten würde". Nach dem Tod der Eheleute soll ihr Wohnhaus in Obernzell als Dokumentations- und Ausstellungszentrum dienen, als "Stätte der historischen Wahrheit" und "Ort des Schönen". Dafür sichten und kommentieren beide etwa 1 000 zeitgeschichtliche Briefe und Dokumente, Fotos, Filme, Tonaufnahmen. "Wir werden mächtig arbeiten", sagt Kunze. "Dann wird hoffentlich ganz unbemerkt der Geburtstag vorbeigegangen sein." Im Herbst geht der Dichter auf Lesereise.