John le Carré John le Carré: Von der Pflicht zum Verrat an Verrätern

Halle (Saale)/MZ - David John Moore Cornwell hat alles mitgemacht. Den Zweiten Weltkrieg als Kind erlebt. Im Kalten Krieg selbst gekämpft. Den Krieg gegen den Terror schließlich hat er beschrieben, immer noch unter seinem falschen Namen John le Carré, aber mit offenem Visier. Der 82-jährige Schriftsteller hat in seinen Spionageromanen - darunter Bestseller wie „Der Spion, der aus der Kälte kam“ und „Das Rußlandhaus“, die er seit seinem eigenen Abschied vom Job beim englischen Geheimdienst veröffentlicht hat - nie einen Zweifel gelassen: Er hat ernsthafte Zweifel an den Methoden, mit denen die Demokratien des Westens an der unsichtbaren Front der Geheimdienstkriege gegen Diktatoren und Terroristen kämpfen.
Auch le Carré, der nach seinem Studium selbst anderthalb Jahrzehnte beim britischen Auslandsgeheimdienst MI6 angestellt war und in dieser Zeit unter anderem in Bonn diente, wusste bis vor einigen Monaten nicht, wie diese Methoden genau aussehen. Dann allerdings kam der Whistleblower Edward Snowden. Dann kamen zumindest Teile der Wahrheit ans Licht. Und dadurch kommt John le Carrés neuer Roman „Empfindliche Wahrheit“ (Ullstein, 24,99 Euro) zu der Ehre, mehr zu sein als ein weiterer Geheimdienst-Thriller, in dem Gut und Böse zur Unterhaltung des Publikums aufeinander einschlagen.
Simple Zeichnungen im James-Bond-Stil waren ohnehin nie le Carrés Geschäft. Der studierte Germanist bevorzugt es, die Abgründe der geheimem Welt der „Dienste“ in ihrer moralischen Uneindeutigkeit zu zeigen und seinen Lesern die Antwort auf die Frage zu überlassen, wie viel Böses die Guten tun dürfen, um die Bösen daran zu hindern, Böses zu tun.
Paul Anderson, ein harmloser Angestellter im britischen Außenministerium, wird mit dieser Frage konfrontiert, als er die dienstliche Weisung erhält, als Beobachter seines Ministers bei einer Anti-Terror-Geheimaktion auf dem Boden eines befreundeten Landes mitzuwirken. Das Unternehmen gerät zum Desaster, doch die Planer im Ministerium sind mit ihren privaten Partnern schnell einig, dass das wunderbar vertuscht werden kann. Erst als ein junger Diplomat misstrauisch wird, schwant dem von Fairplay und demokratischen Tugenden zutiefst überzeugten Anderson, dass womöglich die Leute, die sich am überzeugendsten als Verteidiger der Werte des Westens aufspielen, die sind, die diesen Werten den größten Schaden zufügen. Gibt es die Pflicht, solche Verräter zu verraten? Oder bindet der Eid den Mittäter über alle Grenzen der Moral auch an Verbrecher, wenn die nur glaubhaft behaupten, die besten Absichten zu haben?
Nein, John le Carré hat mit „Empfindliche Wahrheit“ keinen einfachen Thriller geschrieben. Anlage und Stil unterscheiden sich deutlich vom Dauerdröhnen aus Kugelhagel und Verfolgungsjagd, wie es Daniel Silva und Robert Ludlum bieten. Le Carré, der dieses, sein insgesamt 26. Buch im Original vor Edward Snowdens Offenbarungen über die Praktiken der NSA veröffentlicht hatte, rückt hier so nahe an die Realität wie es nur geht. So könnte es gewesen sein. Und wenn nicht, dann wird es so kommen.