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John Cage John Cage: Klang für eine kleine Ewigkeit

Von Margit Boeckh 31.08.2012, 15:51

Halle (Saale)/MZ. - John Cage war nie in Halberstadt. Mehrfach in Deutschland, das schon. In den Fünfzigern etwa. Da mischte der radikale Neutöner nicht nur die Musikszene im beschaulichen Donaueschingen auf mit einer jener Performances, für die der Schönberg-Schüler so berühmt wie berüchtigt war. In jenen früh-betulichen Wirtschaftswunderzeiten führte er zusammen mit einem Pianisten eine seiner Sonaten für zwei Klaviere auf. Auf seine Art: Indem beide unter den Flügel krochen und vorgeblich etwas reparierten oder einfach mit Hämmern auf das Instrument einschlugen. Das Ganze untermalt von den Geräuschexplosionen eines Lautsprecher-Oktetts.

Ein Fluxus-Happening Marke Cage. Getreu seinem kompositorischen Credo, "die Hierarchie und Ordnung der schönen Klänge außer Kraft und an deren Stelle die Gleichberechtigung aller nur denkbaren Geräusche zu setzen". Soll heißen: Alles ist Ton und Klang, in allem ist Musik. Was er lustvoll immer wieder bewies, mit so gut wie allem, was ihm unter die Finger kam. Blumentöpfe, Bierflaschen, Blechkanister. Auch mit Stücken, die nur aus Gemüseschneiden oder Wasserschlürfen bestehen. Die Töne sollten sie selbst sein, die Ohren das gefälligst wahrnehmen. Auch die Musik der Stille. Wie bei seinem berühmtesten Werk s "4'33'". Das bietet das Erlebnis von vier Minuten, 33 Sekunden ohne jeden Ton. Wären da nicht die Geräusche der Zuhörerschaft. Husten, Rascheln, Füßescharren, vielleicht ein am Konzertsaal vorbeifahrendes Auto . . . Im Wortsinne unüberhörbar dabei: Der philosophische Impetus des vom Zen-Buddhismus beeinflussten Radikal-Avantgardisten. So hat er die moderne Musik revolutioniert. Was ihn bis heute umstritten macht.

Vor fast genau zwei Jahrzehnten ist John Cage kurz vor seinem 80. Geburtstag in New York gestorben. Das unbestritten beständigste Denkmal wurde ihm in Halberstadt errichtet. Besser: Es findet statt. Denn in der kleinen Stadt am Harz wird seit dem 5. September 2001 das Cage-Werk mit dem seltsamen Titel "Organ2 / ASLSP" aufgeführt. Bis zum 5. September 2640. Zwei-tausendsechshundertvierzig! 639 Jahre - eine kleine Ewigkeit. Das langsamste Musikstück der Welt. Totaler kann man die Anweisung des Komponisten wohl nicht erfüllen: So langsam wie möglich - "as slow as possible" . Womit sich auch die Abkürzung des Titels erklärt.

Dabei: Eigentlich hatte der absonderliche Tonsetzer das Stück für Klavier geschrieben, später eine Orgelfassung entwickelt. Mit Hilfe eines Zufallsgenerators, wie er es gerne tat. Man kann es "normal" in 29 Minuten spielen. Doch die wie eine verschlüsselte Formel wirkende Aufführ-Anweisung brachte Fachleute ins Grübeln. Ende der neunziger Jahre trafen sich Musik-Experten im schwäbischen Tessingen und diskutierten, wie langsam man denn nun dieses Cage-Werk spielen könne. Tausend Jahre? Zu ungut, die Erinnerungen.

Die Idee war schließlich, dass die Lebensdauer einer Orgel das Zeitmaß liefern könne. Die passende Zahl und der Aufführungs-Wunschort waren bald parat. Denn man wusste um die Musiksensation, die sich im Mittelalter in Halberstadt ereignet hatte. Der berühmte Organist und Musiktheoretiker Michael Praetorius hatte sie 1619 in seinem Standardwerk "Syntagma Musicum" beschrieben. Dreihundert Jahre zuvor hatte ein Mönch namens Nicolaus Faber die erste Großorgel mit einer zwölftönigen Klaviatur entwickelt. Noch heute werden alle Tasteninstrumente nach diesem Prinzip gebaut. Eine volltönende Meisterleistung. 1361, das Jahr ihrer Weihe, sollte zum Fixpunkt für die Dauer der Cage-Aufführung werden. Mit der Jahrtausendwende als Zeitachse kommt man auf die 639 Jahre.

Halberstadt also. Es war wohl auch Glück dabei, dass man für dieses utopische Wahnsinns-Projekt hier offene Ohren und auch noch den passenden Raum fand. Der viel zu früh verstorbene wunderbare Metallkünstler Johann Peter Hinz vermittelte in seinem damaligen Amt als Ratspräsident. Der Stadt entstünden keine Kosten, die trägt eine private Stiftung. Und die fast tausend Jahre alte ehemalige Klosterkirche St. Burchardi könnte nach langer profaner Zernutzung, zuletzt als LPG-Schweinestall, zu ihrer Würde zurückfinden. Vielleicht kämen ja auch ein paar Touristen mehr.

Und - hat es sich gelohnt? Ein kurzes Orgelstück so darzubieten, dass es über Jahrhunderte klingt. Immer nur ein paar Töne, lange Pausen. In einer aufgeräumt-kahlen Kirche. Darin nur ein elektronischer Blasebalg, der den kleinen Pfeifchen einer provisorischen Mini-Orgel die nötige Luft spendet. Statt eines Organisten ziehen Sandsäckchen die Tasten nach unten. Die Töne wechseln im Abstand von Monaten und Jahren. Gerade war wieder mal Klangwechsel. Der zwölfte in den vergangenen elf Jahren. Wieder haben Hunderte Besucher das obskure Schauspiel an der seltsamsten Orgel der Welt verfolgt. Drei hohe Pfeifentöne verschwanden. Bis zum nächsten Tonwechsel im Oktober 2013 erklingen nur zwei Basspfeifen.

Wie sich's anhört? Nun ja, es brummt. Und vibriert dabei irgendwie, sobald man den Kirchenraum betritt. "Es klingt wie im Maschinenraum" hatte schon Rainer O. Neugebauer beim Tonwechsel festgestellt. Der 58-jährige Professor für Sozialwissenschaften an der Hochschule Harz ist Kuratoriumschef der Stiftung und hielt über das verwegene Projekt in einem Aufsatz fest, es sei "wunderlich angezettelt und für viele skeptische Zeitgenossen einfach nur verrückt". Den wachsenden Zuspruch (inzwischen kommen mehr als 10 000 Besucher jährlich) erklärt der Wissenschaftler so: "In der ehemaligen Klosterkirche hat man das Gefühl, ein Stück Ewigkeit zu erfahren. Die Muße und die sanfte Gelassenheit, mit der die meisten Besucher … die Klänge aufnehmen, hat oft etwas Meditatives." Darüber hinaus fasziniere der philosophisch-optimistische Umgang mit der Zeit und der Zukunft.

Tatsächlich, das ist es wohl. Wer offen, mag sein auch naiv, durch die schwere Tür in den grandiosen ursprünglichen Sakralraum eintritt, kann sich der Magie des Ortes und des Geschehens kaum entziehen. Man hört von Menschen, die sich einschließen lassen, um sich dem Klang, der Aura, der Meditation hinzugeben.

Alle großen Medien waren da, von der New York Times bis zu BBC. Alles hat über Cage berichtet und über Halberstadt. Diese im Krieg so schwer zerstörte Stadt im deutschen Osten, die heute ihre Probleme hat mit dem fehlenden Geld für Kultur, für Jugendarbeit. Wo andererseits einer der kostbarsten Domschätze der Welt beheimatet ist und wo man sich dieses überflüssig scheinende Projekt leistet. Ohne systematische öffentliche Förderung, alles privat und durch Spenden finanziert. Durch die Idee mit den Klangjahren etwa. Für tausend Euro ist man dabei und kann sich zwischen 2000 und 2640 ein Klangjahr kaufen. Viele sind schon weg. Die Stiftertafeln sind entlang der Kirchenwände auf einem Stahlband angebracht. Promis wie Wiebke Bruhns und Alexander Kluge haben sich ein persönliches Gedenken für eine kleine Ewigkeit ebenso gekauft wie ganze Familienverbände, Firmen, Institutionen.

Auf dem Klosterhof steht die Stahlplastik "Zeitbrüche" von Johann Peter Hinz. Mit ihren Biegungen und Brechungen, dennoch kaum beirrt in die Höhe ragend, vermittelt sie das Prinzip Hoffnung. So, wie es auch das Halberstädter Kunst-Projekt tut mit seinem Blick auf mehr als sechs Jahrhunderte Zukunft. Luthers Apfelbäumchen lässt grüßen.

Video unter: www.mz-web.de/video