Jenseits der Prilblumen - Der Zeitgeist der 70er

Berlin - Es war die Zeit der Prilblumen und von Abba. Als das Dolomiti-Eis im Strandkorb an der Ostsee die Hände verklebte. Als Ilja Richter die ZDF-Sendung „Disco” mit dem Spruch „Licht aus, Spot an!” eröffnete. Als sich die Urzeitkrebse aus dem „Yps”-Heft in den Kinderzimmern tummelten.
Der Blick auf die 70er Jahre ist verklärt. Es ist leicht, das „Weißt du noch”-Gefühl zu wecken, bei einem Jahrzehnt wie weichgespült mit Lenor.
Dabei gab es auch die bedrückenden Momente. Besonders 1977, das Jahr der Schleyer-Entführung, wurde überschattet vom Terror der RAF. Die Fahndungsplakate mit den Schwarz-Weiß-Fotos, die in der Post hingen, haben sich ins kollektive Gedächtnis der Bundesrepublik eingegraben. In den Studenten-WGs wurde die Frage diskutiert, ob man eine Terroristin wie Gudrun Ensslin aufnehmen würde. Wie hältst du es mit der Gewalt? Das war die Gretchen-Frage damals in der Linken-Szene.
Walter Kohl, Sohn des späteren Kanzlers Helmut Kohl, schildert in seinem Buch, wie bedrückend es für ihn war, in dieser Zeit aufzuwachsen. „Mich verfolgte das Gefühl, Terroristen könnten mich durch ihr Zielfernrohr beobachten.” Sicherheitsleute besprachen mit ihm den Fall einer Entführung. Sein Leben bekam ein Preisschild: Mehr als fünf Millionen Mark würde es für die Entführer nicht geben. Über das Familienleben schrieb Walter Kohl: „Unser eigener Vater spielte so gut wie nie mit uns, außer wenn es von Pressefotografen für eine Homestory gewünscht wurde.”
Die Mutter ist Hausfrau, der Vater verdient das Geld und sieht die Kinder abends nur in Frottee-Schlafanzügen zum „Gute Nacht”-Sagen: So kennen es viele, die in den 70er Jahren aufwuchsen. Die Gesellschaft war in Teilen lockerer als heute: Im Auto und in den Talkshows wurde noch gequalmt. Niemand wäre auf die Idee gekommen, dass Frauen sich die Achselhaare rasieren sollten. Kinder waren beim Spielen ohne Aufsicht unterwegs. Sie kamen erst nach Hause, wenn es dämmerte und die Knie völlig zerschunden waren.
Dass 1976 das Anschnallen im Auto Pflicht wurde, war dem „Spiegel” eine Titelgeschichte wert: „Soll und darf der liberale Staat die Auto-Bürger zum Überleben zwingen?” Aus heutiger Sicht eine kuriose Debatte. Es dauerte Jahre, die Leute vom Anschnallen zu überzeugen. Man versuchte es mit Werbesprüchen wie „Auch der Jäger aus Kurpfalz bricht sich ungern seinen Hals” oder „Erst gurten, dann starten”.
Hätte das Jahrzehnt eine Farbe, so wäre es orange wie die Autos damals. „Rocky” gewann 1977 den Oscar als bester Film. Günter Grass hatte mit der „Der Butt” einen seiner größten Erfolge. Nach den Plastikmöbeln zu Beginn der Dekade zogen Kieferholz und Rattan in die Wohnzimmer. Ikea war noch neu und aufregend, ebenso McDonald's. In der DDR regten sich die Bürger über die staatlich ausgelöste „Kaffeekrise” und die Plörre auf, die aus den Maschinen kam. Ein Jahr zuvor wurde der Liedermacher Wolf Biermann ausgebürgert.
In Ost wie West gab es die Hippiekultur. „Jesuslatschen” trugen junge Leute auf beiden Seiten der Mauer. Aussteigen war Mode. Das kann man aus den WG-Anzeigen von damals lesen: „Da wir so allmählich die Gewißheit haben, daß Stadthektik und -mief bald das letzte bißchen psych. und phys. Persönlichkeit erdrückt, ziehen wir es vor, im Laufe des nächsten Jahres aufs Land (Bauernhof oder so) zu ziehen”, hieß es im Berliner Stadtmagazin „Zitty”.
Eine wichtige Vokabel bei den Studenten in den 70ern: „Undogmatisch” sollte man sein. Im Schrank: die Latzhose. Das Ziel der Demos: das Atomkraftwerk im norddeutschen Brokdorf. Die Jugendarbeitslosigkeit war für die „No Future”-Generation ein Problem. Aus England näherte sich Ende der 70er die Punk-Welle.
Der Blick auf die Protestkultur täuscht. Es war längst nicht alles möglich. Der Geist der Adenauer-Zeit war noch da. Eltern gaben ihren Kindern den Ratschlag, sie sollten „etwas Vernünftiges” lernen: „Mach' doch erstmal eine Banklehre!”. Jungen wuchsen mit Sprüchen auf wie „Indianerherz kennt keinen Schmerz” und durften nicht weinen. Mädchen hatten es nicht leicht, wenn sie gerne Fußball spielen wollten. Eine Frau als Kommentatorin eines Spiels oder gar als Kanzlerin? Damals undenkbar.
Überhaupt, die Gleichberechtigung. In der BRD brauchten Frauen noch bis 1977 die Zustimmung ihrer Ehemänner, wenn sie arbeiten wollten. Im selben Jahr wurde die Frauenzeitschrift „Emma” gegründet. Dass Frauen im Fernsehen Nachrichten lasen, war neu. Dagmar Berghoff fing 1976 bei der „Tagesschau” an.
Später erinnerte sie sich daran in einem Interview: „Der damalige Chefsprecher Karl-Heinz Köpcke vertrat eigentlich die Ansicht, dass Frauen das nicht können, weil sie in Tränen ausbrechen, wenn ein Unglück passiert ist. Die Kollegen haben mich aber sehr freundlich aufgenommen, vor allem, nachdem sie gemerkt hatten, dass ich es doch kann.” Frauen mussten sich immer beweisen, wenn sie Neuland eroberten. Das ist bis heute so geblieben.
Dagmar Berghoff war es auch, die am 19. Oktober 1977 in der „Tagesschau” vorlesen musste, dass der entführte Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer ermordet worden ist. Millionen Deutsche verbrachten damals viele Stunden vor dem Fernseher.
Filmemacher wie Rainer Werner Fassbinder und Volker Schlöndorff zeichnen in „Deutschland im Herbst” (1978) das Bild dieser zerrissenen Epoche. Der Film endet mit der Beerdigung der RAF-Terroristen Gudrun Ensslin, Andreas Baader und Jan-Carl Raspe.
Die letzte Szene zeigt eine junge Frau, die mit einem Kind an der Hand im Hippie-Poncho durch das Herbstlaub geht. Sie streckt den Daumen zum Trampen hoch. Dazu singt Joan Baez, ein grauer Käfer rollt vorbei. Im Abspann heißt es: „An einem bestimmten Punkt der Grausamkeit angekommen, ist es schon gleich, wer sie begangen hat: sie soll nur aufhören.” (dpa)

