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Interview mit US-Historiker Fritz Stern Interview mit US-Historiker Fritz Stern: Flüchtlingsdrama: "Amerika ist mitverantwortlich"

13.11.2015, 06:20
Flüchtlinge warten in einem Zelt vor dem Landesamt für Gesundheit und Soziales (LaGeSo) in Berlin auf ihre Registrierung.
Flüchtlinge warten in einem Zelt vor dem Landesamt für Gesundheit und Soziales (LaGeSo) in Berlin auf ihre Registrierung. dpa Lizenz

Köln - Fritz Stern gilt als der bedeutendste US-Historiker für deutsche Geschichte. Geboren 1926 in Breslau, emigrierte er 1938 mit der Familie in die USA. 1963 wurde er Professor für Geschichte an der Columbia University in New York, was er bis zur Emeritierung 1997 blieb. Zuletzt veröffentlichte der Wissenschaftler, der unter anderen eng mit Helmut Schmidt befreundet war, gemeinsam mit Joschka Fischer das Buch: „Gegen den Strom. Ein Gespräch über Geschichte und Politik“ (2013). Mit Fritz Stern sprach Michael Hesse.

Herr Stern, Sie und Ihre Familie mussten Deutschland unter der Nazi-Herrschaft verlassen. Haben Sie deshalb besondere Sympathie für die Flüchtlinge?

Stern: Es ist sehr schwer, das zu vergleichen. Die Situation damals war eine völlig andere. Wir mussten unseren Aufbruch nach Amerika von längerer Hand planen, als es für die Flüchtlinge heute der Fall ist, die unter entsetzlichen Umständen versuchen, nach Europa zu kommen. Meine Sympathie für die Flüchtlinge mag sicher auch durch die eigenen Erlebnisse gestützt werden. Aber es ist doch vor allem rein menschlich, dass man an die Misere der vielen Menschen denkt. Wenn Sie eine persönliche Verbindung suchen, dann, glaube ich, gibt es eine zwischen Frau Merkel und ihrer Sympathie zu den Flüchtlingen.

Ist es Merkels Lebenslauf, der diese Sympathie begründet?

Stern: Ja, das Unglück in der eigenen Heimat, die Erinnerungen, wie Hunderttausende von Ostdeutschen, als 1989 die Möglichkeit endlich da war, nach Westdeutschland rüberkamen, wenn auch nur für kurze Zeit.

Halten Sie den Entschluss der Bundeskanzlerin, das Dublin-Abkommen für Syrer auszusetzen, für die richtige Entscheidung? Deshalb haben viele Menschen den Weg nach Europa auf sich genommen.

Stern: Es war nur der erste Schritt hin zu einer richtigen Entscheidung. Was noch fehlt, ist eine Ordnung, ein Plan, wie man den Kommunen helfen kann, so dass sie sich nicht überfordert fühlen. Man muss Verständnis haben für die Migranten wie für jene, die die Verantwortung tragen. Für die fremdenfeindliche Antwort habe ich sehr wenig Verständnis.

Brennende Flüchtlingsheime, ein Anschlag auf die Kölner OB-Kandidatin. Wundert Sie die Radikalität?

Stern: Es wundert mich etwas, aber hauptsächlich bedaure ich es. Ich verfolge dies mit großer Besorgnis. Die Kundgebungen in Dresden waren erschreckend. Auf der anderen Seite gab es Demonstrationen für Humanität und Frieden, die man hoch schätzen sollte. Der Rechtsradikalismus, die Fremdenfeindlichkeit, die neuen nationalistischen Töne sind nicht auf Deutschland beschränkt. Es gibt sie leider in jedem europäischen Land. Was die Menschen da verspielen an Dingen, die man vorher in der Nachkriegszeit gewonnen hat! Die ganze Geschichte der Entstehung der EU, der Versuch, ein besiegtes Deutschland in die westliche Gesellschaft zu integrieren - das hatte etwas Großartiges an sich. Europa ist mehr als Brüssel. Darüber sollten die Menschen in Europa sich im Klaren sein. Doch die Entwicklung ist erschreckend.

Ist das, was sich gerade abspielt, ein Zeichen der Schwäche der EU?

Stern: Es ist eine ganz große Herausforderung für die EU. Bislang hat sie nicht gezeigt, dass sie in der Lage ist, diese Krise zu bewältigen. Manchmal denke ich, dass es sich um eine tiefe menschliche Tragödie handelt, wenn man die Flüchtlinge sieht, die unter entsetzlichen Umständen versuchen, nach Europa zu kommen. Und dass es sich um eine politische Tragödie handelt, wenn man sieht, dass die Einzelstaaten der Initiative der EU nicht folgen. Es gibt nicht genügend Kooperation.

Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es massive Flüchtlingsströme. Das Asylgesetz wurde ins Grundgesetz aufgenommen. Haben jene, die die Flüchtlinge ablehnen, die Vergangenheit ausgeblendet?

Stern: Ja, ich nehme an, dass die Deutschen das irgendwie verdrängen. Man hält sich manchmal an der eigenen Vergangenheit schadlos. Die Schlesier und Ostpreußen wurden damals von den Menschen in den verschiedenen Zonen aufgenommen. Ein richtiges Deutschland existierte zu dieser Zeit nicht. Sie haben sich so gut integriert wie möglich. Es gab kein Asylrecht zu dieser Zeit.

Sie haben Deutschland vor einigen Jahren als Vorbild der Demokratie gelobt und die USA zum Problem erklärt. Sehen Sie Deutschland immer noch so positiv?

Stern: Nein, nicht mehr ganz so positiv. Das Land scheint stärker entzweit zu sein als noch vor ein paar Jahren. Das sehe ich mit Besorgnis. Die fremdenfeindlichen Attacken haben stark zugenommen und sind sehr bedenklich und traurig. Der Anschlag auf die Kölner OB-Kandidatin ist ein Beispiel dafür, wie sehr sich die Entwicklung radikalisieren kann. Die deutsche Demokratie hingegen ist immer noch funktionsfähiger als die in Amerika. Im Übrigen gibt es auch die Bilder vom Münchner Hauptbahnhof, wo die Flüchtlinge mit großer Herzlichkeit aufgenommen wurden.

Man sagt immer, Merkel habe den Flüchtlingsstrom ausgelöst. Aber mitverantwortlich sind die USA wegen des Irak-Kriegs, durch den der Irak, aber nun auch Syrien destabilisiert wurde. Müssten die Amerikaner mehr Flüchtlinge aufnehmen?

Stern: Dem stimme ich hundertprozentig zu. Sie nehmen bislang rund 10.000 Menschen auf. Aber eigentlich müssten sie viel, viel mehr aufnehmen. Die USA sind mitverantwortlich für diese Situation durch den unüberlegten Krieg, den die Regierung unter George W. Bush 2003 gegen den Irak geführt hat. Allerdings ist die Aufnahme von Flüchtlingen an die Geografie gebunden. Der kürzeste Weg führt nun einmal nach Europa, nicht in die USA. Aber auch dort gibt es, das sieht man an der Haltung vieler Republikaner, eine überzogene Angst vor Einwanderern. (mz)