Interview mit Peter Wawerzinek Interview mit Peter Wawerzinek: So erlebt der Schriftsteller das Weihnachtsfest

Berlin - Der Schriftsteller Peter Wawerzinek, geboren 1954 in Rostock, wurde 1956 gemeinsam mit seiner jüngeren Schwester von der allein erziehenden Mutter verlassen. Er wuchs im Kinderheim und bei Adoptiveltern auf. Von 1988 bis 1990 tourte er als Poet mit dem Hallenser Matthias Baader Holst durch die DDR. Wawerzinek veröffentlichte zahlreiche Bücher, darunter den autobiografischen Roman „Rabenliebe“. 2010 erhielt er den renommierten Bachmann-Preis. Mit Peter Wawerzinek sprach in Berlin Andreas Montag.
Herr Wawerzinek, wovor müssen wir uns nach dem Anschlag vom Berliner Breitscheidplatz mehr fürchten - vor weiteren IS-Attentätern oder vor dem Rechtsruck, den das tragische Geschehen der politischen Debatte im Lande gibt?
Wawerzinek: Wir haben uns davor zu fürchten, dass wir uns an solche Terrorakte gewöhnen und schmerzloser werden gegenüber denjenigen, die sie für ihre menschenfeindlichen Argumentationen zitieren. Wir haben erschreckt und fast schon wie selbst betroffen menschlich zu reagieren. Wir müssen, wie es einmal mein großes Vorbild in Sachen Literatur, Dylan Thomas, gesagt hat, die Brennnesseln in unsere Tastaturen stecken, dass wir uns an ihnen verbrennen, stets wieder neu entzünden.
Was wir auf keinen Fall gebrauchen können für jede Form von Kunst, die wir betreiben, ist Abhärtung und Abstumpfen. Der Terror darf sich nicht in unsere Weichteile fressen. Wir müssen so empfindlich wie nackte Wesen bleiben. Es gibt keinen sicheren Schutz als die blank geriebene Haut für uns.
Es geht ums Ganze, um die Herzdinge - besonders zu Weihnachten. Gefühle, die man dann doch nicht mitnimmt ins Neue Jahr?
Wawerzinek: Es ist ambivalent. Aber es ist eben auch schön, dieses Weihnachten. Besonders, wenn man Kinder hat. Die werden zwar größer, aber selbst, wenn sie 20 oder 25 Jahre alt sind, haben sie es immer noch gern. Sie fordern das dann ein, kommen immer noch nach Hause, zum Essen, zum Beisammensein.
Und wie ist die Weihnachtsstimmung bei Peter Wawerzinek?
Wawerzinek: Bei mir hat es sich schon sehr reduziert, auf ein paar Zweige und einen Adventskranz. Ganz weit weg vom Tannenbaum also. Ich erlebe aber, dass Menschen an den Ritualen hängen. Freunde haben mir einen selbst gebackenen Stollen geschickt, der, in Tücher eingeschlagen und kühl aufbewahrt, erst jetzt, zu Weihnachten gegessen wird.
Überhaupt ist das Festessen ja ein Thema für sich, oder?
Wawerzinek: Ich werde bei meiner Freundin sein, mein Part ist es, den Gänsebraten zuzubereiten. Das ist eine große Kunst. Von meiner Kollegin Katja Lange-Müller weiß ich, dass sie das Fleisch zunächst zwei Stunden lang kocht, in Wasser und Orangensaft, fünfzig zu fünfzig. Danach lässt sie alles richtig auskühlen und legt die Gans erst dann in den Backofen. Ich bereite sie unter Folie in der Röhre, auch mit Orangensaft, damit das Fleisch richtig mürbe wird. Und zum Schluss lasse ich den Braten 45 Minuten lang bräunen.
Aber macht das Weihnachtsfest die Herzen wirklich weit?
Wawerzinek: Mir macht Weihnachten das Herz weit. Da muss man nur in meine Biografie schauen. Ich mochte den Tannenbaum immer, auch bei meinen Adoptiveltern. Selbst, wenn er rasch die Nadeln zu verlieren begann, weil es so heiß war in der Wohnung. Ich schob die Nadeln mit einer Spielzeugraupe zusammen. Die gehörte mir gar nicht, die war von Nachbarn geliehen. Das war richtige Arbeit unter dem Weihnachtsbaum.
Das Besondere war das Einfache?
Wawerzinek: Auch die Heimlichkeit davor fand ich schön. Das Wort Heimlichkeit erinnert mich an Heim, an das Kinderheim, in dem ich einmal lebte. Da gab es einen großen Saal mit vielen Menschen darin. Und das versuche ich immer noch hinzubekommen: Dass ich Weihnachten unter Menschen bin. Ich könnte mir das Fest allein oder zu zweit gar nicht vorstellen, es muss schon etwas passieren - auch kleine Unglücke. So wie damals im Heim, wenn jemand ein falsches Geschenk bekam. Alle haben sich amüsiert...
Was gab es denn für Geschenke?
Wawerzinek: Bei den Adoptiveltern gab es das Übliche: Socken, Unterwäsche, bestickte Taschentücher. Einmal kam Weihnachten zu meinem 30. Geburtstag in mein Leben, das war Ende September. Da bin ich über den Berliner Alexanderplatz spaziert und dachte: Heute wirst du Dreißig, ein entscheidendes Jahr! Die Bachmann hat ja darüber geschrieben.
Also nahm ich das ordentlich ernst und kaufte zehn Lose, was ich sonst nicht tue. Und eines der Lose war ein Gewinn: Eine Spielzeugraupe, wie ich sie mir als Kind so sehr gewünscht hatte und nicht geschenkt bekam. Mit einer beweglichen Schaufel und Kolben, die leuchteten. Das romantischste Spielzeug, das ich je besaß.
Und wie ging es weiter?
Wawerzinek: Ich habe den ganzen Alex abgesucht nach einem Jungen, der vom Wesen her so sein könnte, wie ich damals war. Und dann habe ich die Raupe verschenkt.
Die Weihnachtserinnerungen sind stark von Schmerz besetzt?
Wawerzinek: Die Rituale haben mich damals auch erschreckt, im Heim schon und dann bei den Adoptiveltern: Die festen Abläufe. Dass plötzlich keiner mehr ins Zimmer durfte. Weil jetzt, um 18 Uhr, der Vater die Spitze auf den Baum setzt. Ich durfte da nie mitmachen, sondern sollte dann nur „Ah“ und „Oh“ rufen.
Und im Kinderheim?
Wawerzinek: Es gab da immer so eine Haltung: „Freut Euch!“ Neben mir bekam einer mal fast eine Backpfeife, weil er sich nicht richtig freute. Und dann sollten wir singen: Wieso klappt das denn nicht? Wir haben das doch geübt!
Ich konnte Gedichte nicht gut aufsagen, ich kann das heute noch nicht. Aber wer kein Gedicht aufsagen konnte, bekam kein Geschenk vom Weihnachtsmann, sondern die Rute. Vor der hatte ich großen Respekt. Und dann habe ich es immer gerade noch so hingekriegt.
Wir machen einen Sprung: Bis kurz vor dem Fest waren Sie für ein halbes Jahr als Stadtschreiber in Dresden unterwegs. Wie tickt die Stadt der Pegida-Bewegung?
Wawerzinek: Naiv wie ein Kind bin ich im späten Frühjahr dorthin gegangen. Und ich hatte mein Fahrrad mit. Urgemütliche Ecken gibt es da ja noch. Freunde leben da. Das wird eine lustige Zeit, dachte ich. Bis ich einen Dresdner Autor traf. Der hielt mir gleich einen Vortrag. Wie typisch das wieder mal sei, dass natürlich ein Berliner die Stadtschreiberstelle bekommen hat. Die alte Leier von den Dresdnern, die immer zu kurz kommen, weil alles in Berlin entschieden wird. Dabei hatte ich doch denen, die mich vor Dresden warnten, das Gegenteil beweisen wollen.
Daraus wurde also nichts?
Wawerzinek: Ich dachte: Die sind doch ein unzufriedener Haufen, diese Dresdner. Die sich immer als Zu-spät-Gekommene oder als die Nichtbeachteten fühlen.
Woran liegt das? Weil sie oft in der Geschichte die Verlierer waren?
Wawerzinek: Damit hat es sicher zu tun. Und auf jeden Fall mit der jüngsten, also mit der DDR-Geschichte. Das „Tal der Ahnungslosen“ fällt einem ein, wo es kein Westfernsehen gab. Auch, dass Leipzig mit seiner Messe den Dresdnern immer den Rang abgelaufen hat, wenn von Sachsen die Rede war. Hinzu kommt die Grenzland-Mentalität, Polen und Tschechien liegen nebenan. Man schimpft über die Nachbarn, fährt aber zu ihnen, tankt billiges Benzin, kauft Zigaretten und Gartenputten. Die ganze Doppelmoral, die Fremdenfeindlichkeit...
Und die Reaktionen darauf?
Wawerzinek: Es gibt sie in der Dresdner Öffentlichkeit so gut wie gar nicht. Man sieht einfach nichts davon. Das hat mich schon verwundert. Ich habe auch keine ernsthafte Anti-Pegida-Demo wahrgenommen. Es gibt statt dessen so eine „Ach was“-Haltung, die sagt: Das wird schon wieder vergehen.
Mehr nicht?
Wawerzinek: Wie gesagt: Sie sind beleidigt. Sie fühlen sich schlecht behandelt, auch von den ausbleibenden Touristen: Alles wegen so ein bisschen Pegida! Oder sie sagen: Gebt es doch zu, darauf habt Ihr doch nur gewartet! Oder es heißt: Das alles hat mit Dresden nicht viel zu tun, die kommen ja von außerhalb. Und sie tun eben fast nichts, um etwas dagegen zu setzen, wie es zu Beginn der „Spaziergänge“ einmal war. Da sind Menschen mit Kehrschaufeln hinter der Pegida-Demo hergezogen, um den Dreck aufzusammeln.
Dabei geht es den Leuten doch nicht schlecht?
Wawerzinek: Ja. Und sie hatten sich doch auch die Maueröffnung gewünscht, sie wollten raus, die Fremde und die Fremden kennenlernen. Das haben sie ausgekostet. Und nun fallen sie zurück in die alte Erstarrung. Und der, der das beobachtet und darüber schreibt, bekommt zu hören: Du irrst Dich, man hinkt hier gar nicht. Der Schreiber, der Fremde, ist der Nestbeschmutzer. Es gibt bei den Pegida-Anhängern, unter denen ja durchaus gescheite Leute sind, die Haltung, sie seien die Propheten, die vor der Flut der Fremden gewarnt hätten, die man stoppen müsse, um das Abendland zu retten: Ihr werdet schon sehen, sagen sie, wenn es dann schiefgegangen ist - wir werden Euch nicht helfen!
Werden die Populisten also Oberwasser gewinnen?
Wawerzinek: Meine Befürchtung ist eher, es geht in die türkische Richtung. Dort wird gerade das ganze Zeitungswesen eingestampft, die Schwulen müssen sich verstecken. Tendenziell geht das in Richtung Faschismus.
Die Sehnsucht nach Autorität nimmt jedenfalls zu, auch in Deutschland.
Wawerzinek: Es soll wieder überschaubarer werden, wünschen sich offenbar viele Leute. Sie empfinden Stagnation in der Politik: Die Opposition sitzt nur da und dreht Däumchen!, meinen sie. Da wäre es manchem wohl lieber, es käme einer wie Erdogan und es würde etwas getan. (lacht) Das ist eine ulkige Haltung. Und nun kommen, 27 Jahre nach dem Mauerfall, wieder Zeiten der Abschottung in Europa.
Und welche Schlüsse lässt das zu?
Wawerzinek: Ich bin sehr skeptisch. Es ist keine ermutigende Zeit, in der nicht nur die Schlaghose zurück kommt, sondern auch der Schlagbaum. Schon überlegen sich Leute aus meinem Umfeld: Wenn es schlimm käme - wohin könnte man gehen?
Woher kommt die Entwicklung? Allein aus sozialen Verhältnissen oder auch aus der Massenpsychologie?
Wawerzinek: Früher habe ich gedacht, das geht allein vom Kapital aus. Heute fürchte ich, es ist doch eher die Masse. Die Stammtische, die zu Politik werden. Dass wieder der starke Mann gesucht wird.
Schlechte Zeiten für die Kunst?
Wawerzinek: Im Gegenteil! Es sind sehr gute Zeiten für die Kunst. Ich zum Beispiel kann jetzt über Dresden schreiben. Aber ich will ja kein Guru werden. Die fantasievollen, verrückten Dinge müssen von den Jüngeren, von den 30-Jährigen kommen. Die noch in der Zukunft leben werden, die da kommt. Für die es wirklich um viel geht.
Wie sieht die Prognose aus?
Wawerzinek: Mal sehen, wie lange Merkel noch standhält. Die Konflikte werden sich verschärfen. Die nationale Karte wird gespielt gegen den europäischen Gedanken. Aber: Angst machen gilt nicht! (mz)