Henry van de Velde Henry van de Velde: Der Urvater des Bauhauses

weimar/MZ - „Warum ist der eigentlich nicht so bekannt wie Gropius oder van der Rohe?“ fragte am Ende einer Ausstellungsführung ein Besucher. Ja, warum eigentlich? Dabei sticht in der opulenten Schau zum 150. Geburtstag von Henry van de Velde im Weimarer Neuen Museum buchstäblich ins Auge, warum der heute als „Wegbereiter der Moderne“ unumstrittene Künstler seinen Designer-Kollegen gestalterisch keineswegs nachstand und vielfach voraus war.
Die Ausstellung „Leidenschaft, Funktion und Schönheit“ der Klassik-Stiftung Weimar belegt das auf immerhin 1 400 Quadratmetern anhand von mehr als 700 Exponaten. Die Schau dokumentiert erstmalig alle Schaffensphasen des belgischen Design-Genies. Vor allem dank zahlreicher privater Leihgeber sind dabei bislang nie öffentlich gezeigte Spitzenstücke zu sehen. So viel van de Velde war nie, versichert denn auch die Klassik-Stiftung. Chronologisch aufgebaut, sind hier die Werke eines unglaublich vielseitigen Schaffens in ihrer Vielfalt zu erleben. Von den frühen Gemälden im Barbizon-Stil bis zum Alterswerk mit dem Interieur der Belgischen Staatsbank und der Bibliothek von Gent, deren „Bücherturm“ bis heute als Wahrzeichen der Stadt gilt.
Funktional bis ins Detail
Eine Schau, die als Fest fürs Auge und für die Sinne zu erleben ist. Ein Rundumschlag in Sachen edler Gestaltung des Funktionellen. Zu sehen sind Möbel, Porzellan, Silberleuchter, Tapeten, Stoffe, Schmuck, Kleider, Buchumschläge, Keramik, ganze Zimmereinrichtungen. Bis hin zum Interieur eines Frisiersalons, der einst im Berlin um 1900 für Furore sorgte. Mit seinen Materialien (Edelholz, Messing) wäre der für aktuelle Vorgaben wesentlich zu kostbar. Im Funktionalen jedoch war van de Veldes Umsicht heutigen Salons weit überlegen. Oder wo findet man heute eine dezent integrierte Klappe für abgeschnittene Haare? Durchdacht bis ins Detail eben.
Wie bei den von van de Velde entworfenen Stühlen und Sesseln, von denen eine ganze Galerie gezeigt wird. Edle Formen, elegante Schwünge – und prima sitzen kann man darauf auch noch. Ein Raumensemble für die Auftraggeberfamilie Wolff von 1910 bildet vom Anrichteschrank bis zum silbernen Flaschenkühler eine gestalterische Sinfonie. Funktional und trotzdem heimelig ein Kinderzimmer. Ein Modell des Werkbundtheaters in Köln – van de Veldes einzig realisierter Theaterentwurf – lässt ahnen, welch gestalterische Sensation dieser 1914 eröffnete (und 1920 leider abgetragene) futuristische Bau damals gewesen sein muss. Der von van de Velde gestaltete belgische Pavillon für die New Yorker Weltausstellung von 1939 wurde später auf dem Campus der Universität von Richmond (Virginia, USA) wieder aufgebaut - als bleibendes Denkmal der Schöpferkraft des Ausnahmekünstlers wie so viele seiner Bauten.
Einer der Höhepunkte der Schau prunkt im spektakulärsten Raum des Museums. In der lichtdurchfluteten Preller-Galerie präsentiert sich eine komplette Tafel für zehn Personen. Vom Silberleuchter bis zum Salznäpfchen – alles van de Velde-Style. Die kostbare Leihgabe, vorher noch nie zu sehen, kommt von einem privaten Sammler.
Tatsächlich hatte van de Velde auch für die Meißner Manufaktur ein Service entworfen. Blau-weiß, strenge Konturen. Ein Flop! Weil: zu modern. Die Zeit für einfache Dekore und klare Linien (sein Markenzeichen) war noch nicht reif. Doch inzwischen ist van de Velde in Sammler- und Museumskreisen ebenso hoch geschätzt wie die (dank einer florierenden Replikatindustrie) populäreren Designerkollegen. Seit ein, zwei Jahrzehnten explodieren die Preise für echte van de Veldes, die es in den Sechzigern noch auf dem Flohmarkt gab, wissen Experten. Und eine Thüringer Manufaktur hat inzwischen ein elegantes van de Velde-Service neu aufgelegt.
Zu Lebzeiten oft verspottet
Eine zeitversetzte Anerkennung. Denn zu Lebzeiten war dem Flamen oftmals Zurücksetzung, ja Spott beschieden. Schon als er zu Beginn des 20. Jahrhunderts nüchtern feststellte: „Die Zeit des Ornaments aus Ranke, Blüten und Weibern ist vorbei.“ Dabei galt er bis dato als Protagonist des Jugendstils mit eben jener ornamentalen Feier von Ranken, Blüten, Weibern mit wallendem Haar.
Doch mit geradezu seismographischem Gespür für zeitgeistige Entwicklungen hatte sich van de Velde noch vor Gründung des Deutschen Werkbundes 1907 mit seinem Credo auf die Seite der zukunftsträchtigen Moderne gestellt. Fortan waren seine ästhetischen Konstruktionen von der Suche danach bestimmt, die edle Linie ohne Schnickschnack hin zur reinen Einfachheit zu führen.
Ein Prinzip, das der geniale Universalkünstler auf alle seine Entwürfe übertrug – Architektur, Interieur, Porzellan, Besteck, Schmuck, ja selbst bis hin zur reformbewegten lockerleichten Damenmode im Kontrast zu den damals üblichen Korsett-Taillen. Vor seinem gestalterischen Willen war nichts sicher. Wobei Universalkünstler nach Klischee und Marketingstempel klingen mag. Doch ist und bleibt es für Henry van de Velde die einzig passende Etikettierung.
Dabei war ihm sein seherisches Genie zu Lebzeiten über weite Strecken zum Verhängnis geraten. Schon im heimischen Belgien, wo die in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts nach seinen Prinzipien erbaute schlichte, schnörkellose Villa für die eigene Familie allenfalls das Gelächter der Belle-Epoque-geprägten Brüsseler Passanten hervorrief. Und später in Weimar, für anderthalb Jahrzehnte sein Hauptwirkungsort, erging es ihm nicht wesentlich besser.
Zwar war er 1902 vom Großherzog höchstselbst zum künstlerischen Berater berufen worden. Mit Hilfe seines in die Thüringer Provinz gedrungenen Rufes sollte dem verblassenden Nimbus der Klassikerstadt neuer Glanz verliehen werden. Doch schon bald verwiesen dort Neid, Missgunst, Unverständnis den vorwärtsdrängenden Gestalter in die Schranken.
Mit all seinen Ideen war der heute als wesentlicher Wegbereiter der Moderne und Urvater des Bauhauses verehrte „Meister des Gesamtkunstwerks“ einfach zu viel für den kleingeistigen Mief in seiner thüringischen Wahlheimat auf Zeit. Und doch lässt sich gerade hier und im Thüringer Umfeld bis heute am unmittelbarsten sein umfassendes Gestaltungsvermögen nacherleben. In privaten Villen, von denen seit der Wende etliche als kulturelle Zentren neu erstanden sind (Haus Schulenburg Gera, Villa Esche Chemnitz). Und in Weimar alleine bei acht Bauten, wobei neben dem Nietzsche-Archiv vor allem die Bauhaus-Universität im Blickpunkt steht.
„Leidenschaft, Funktion, Schönheit – Henry van de Velde und sein Beitrag zur europäischen Moderne“, bis zum 23. Juni, Neues Museum Weimar, Weimarplatz 5
Weitere Informationen zur Ausstellung im Internet unter:www.klassik-stiftung.de/vandevelde