Helmut Obst Helmut Obst: Wegbereiter einer Idee geht in Ruhestand

Halle (saale) - Voraussichtlich wird August Hermann Franckes Speisesaal - heute „Freilinghausen-Saal“ - die Zuhörer gar nicht alle fassen können, die am Montag in die Franckeschen Stiftungen strömen werden, um deren Ko-Neugründer aus der Nach-Wendezeit, das langjährige Direktoriumsmitglied, den kurzzeitigen Präsidenten und amtierenden Kuratoriumsvorsitzenden Helmut Obst fast 78-jährig in den Ruhestand zu verabschieden. Einige aber werden weiter zurückschauen und sich erinnern, dass er in der DDR der ungewöhnliche Fall eines Theologen war, der zum Bestsellerautor avancierte.
Bestseller über Sekten
Der sicher auch damals schon eher nachdenklich und bedächtig agierende Mann aus dem Erzgebirge versetzte das Zensurwesen seines kirchen- und religionsfernen Staats in helle Aufregung, als er ein Buch „über Sekten“ herausbringen wollte. Religionsgemeinschaften bis hin zu Mormonen und Neuapostolikern durften zwar existieren - aber ihnen publizistisch Vorschub zu leisten wäre nicht angegangen.
Helmut Obst aber kam mit seinem Projekt durch, weil er sich auf sein nominelles Forschungsthema beschränkte. Und so hieß das 1980 erschienene Buch „Apostel und Propheten der Neuzeit“ im Untertitel „Gründer christlicher Religionsgemeinschaften des 19. und 20. Jahrhunderts“ - personen- und nicht instititionsbezogen also.
Beschäftigung mit Pietisten
Bis zur Wende erlebte das Werk drei Auflagen, danach noch eine weitere. Dem Theologen, der über seine Beschäftigung mit den schwärmerischen Pietisten des 18. Jahrhunderts zu dem Thema gekommen war, ging es ausdrücklich um eine wertungsfreie Darstellung. Er untersuchte die einzelnen Sektengründer aus dem Blickwinkel ihres theologischen Standpunkts.
Das Vorwort aber deutet an, warum seine durchaus nicht nur an Glaubenslehren interessierte Leserschaft das Werk kaufte: Sein Blick gelte, heißt es, den „Kritikern der herrschenden religiösen und sozialen Zustände der Zeit.“ Er schreibe über Menschen, denen es um „Neuanfang, Reformen, um Veränderungen ging.“ 1959 begann Obst sein Theologiestudium in Halle. Sein späterer Doktorvater, bei dem er auch habilitierte, war der Kirchengeschichtler Erhard Peschke.
Durch ihn kam er auf August Hermann Francke und seine Stiftungen. Er musste wie viele andere zusehen, wie die Bauten verfielen, aber die Stiftungen waren nach der 1948 verfügten Auflösung an die Universität angegliedert worden, „und das“, sagt er, „rettete ihre Sammlungen, die sonst vielleicht in alle Winde verstreut worden wären“. Während sich sein wissenschaftliches Interesse von Francke auf die Sekten verlagerte, so hatte er doch den Verfall der Anlage täglich vor Augen.
Stiftung wiedergegründet
In der Wendezeit war Obst Dekan der Theologischen Fakultät. Als solcher hatte er bis dahin im Senat „als letzter rangiert, noch hinter dem Direktor der Arbeiter- und Bauernfakultät.“ Da hatte er die Kühnheit, mitten in einer Spannung, „in der es um ganz andere Dinge ging“, die Neu- oder Wiedergründung der Franckeschen Stiftungen anzuregen. Er lag richtig: Diese Idee hatte ihre Zeit gefunden. Paul Raabe, damals Direktor der Wolfenbütteler Herzog-August-Bibliothek, hatte schon 1988 Kontakte an die hallesche Uni geknüpft und unterstützte den Plan, in den Stiftungen ein Zentrum der Europäischen Aufklärung einzurichten.
Dieses aber sollte unter die Ägide der Universität gestellt werden. Obst begegnete Raabe erstmals im Juni 1990 und konfrontierte ihn stattdessen mit seinen Vorstellungen. „Die Zeit ist gekommen, dieses Unrecht wiedergutzumachen“, zitiert ihn Raabe in seinem autobiografischen Buch „In Franckes Fußstapfen“. Raabe wurde damals zum Präsidenten des neu gegründeten „Freundeskreises“ gewählt, der Keimzelle jenes erstaunlichen Wiederaufbauwerks, das Raabe bis zu seinem Tod 2013, Helmut Obst aber bis zum heutigen Tag begleitet hat, gemeinsam mit Stiftungsdirektor Thomas Müller-Bahlke.
Kultur im antiken Sinn
Dabei konnte es bei aller Notwendigkeit nicht nur um die Bauwerke gehen. „Es war ja nichts mehr da an christlicher Tradition und Kultur. Man musste inhaltlich arbeiten.“ Darin liegt für ihn der Kern des Projekts der 1991 „wiederhergestellten“ Franckeschen Stiftungen. „Es ist gelungen, sie traditions-, aber auch zeitgemäß mit vielfältigem Leben zu erfüllen und einen kulturellen Kosmos zu schaffen.“ Ohne dieses Leben wären die Stiftungen nur Museum. „Die Kultur, das sind die Menschen, Schulen, Sportplätze. Das ist Kultur im antiken Sinn.“
Tatsächlich ist mit dem Beginn der Arbeiten an den letzten unsanierten Häusern das denkmalpflegerische Ziel in greifbarer Nähe gerückt. Inhaltlich sieht Obst die Zukunft nun zunehmend im Sozial-Pädagogischen. „Hier geschieht wirklich etwas. Das sichert das Leben in der Stiftung. Die Schüler kommen irgendwann als Erwachsene wieder. Das stärkt die stiftische Identität.“ Auch er selbst muss sich nicht mit einer Rückschau begnügen: Er bleibt Ehrenvorsitzender des Kuratoriums. „Ohne mich ins Alltagsgeschäft einzumischen“, betont Helmut Obst nachdrücklich. Für die Stiftungen wird es aber gut sein, wenn sein Rat noch lange nachgefragt werden kann.
(mz)