Gespräch mit Reiner Kunze Gespräch mit Reiner Kunze: «Weihnachten war ein wenig Himmel auf Erden»
Erlau/MZ. - Hoch über der Donau, zwölf Kilometer östlich von Passau, lebt Reiner Kunze (69) mit seiner Frau Elisabeth - in der Gemeinde Erlau, einem Ortsteil von Obernzell. "Am Sonnenhang" heißt die Straße, in der das Wohnhaus steht, vom Fenster aus geht der Blick nach Österreich, Böhmen ist nicht weit. Mit Reiner Kunze sprach unser Redakteur Christian Eger.
Herr Kunze, Sie wurden in Oelsnitz im Erzgebirge geboren, in einer Landschaft, die im Ruf steht, eine Weihnachtslandschaft zu sein. Was ist dran an diesem Ruf?
Kunze: Es kommt darauf an, was man unter Weihnachtslandschaft versteht. "O Tannenbaum, o Tannenbaum, wie grün sind deine Blätter." Wieso Blätter? Das ging mir als Kind nicht in den Kopf. Als ich meiner Mutter sagte, der Tannenbaum hat ja gar keine Blätter, sagte sie: "Das Lied aber geht so."
Das heißt, es zählt nicht, was die Dinge sind, sondern, was wir meinen, das sie sein sollen. Hier galt es, wie das Lied es singt.
Kunze: Ja - das Überlieferte als Autorität. Meine Mutter hätte ja nur zu sagen brauchen: Die Nadeln sind ja auch Blätter, nur dass sie im Herbst nicht abfallen, und man sagt Nadeln dazu, weil sie spitz sind. Aber so viel pädagogischen Aufwand hielt sie gar nicht für nötig. Das Lied aber geht so.
Und Weihnachten ist ein Fest, das niemandem erklärt werden muss, weil es ja immer da war.
Kunze: Weihnachten gab es, wie es Himmel und Erde gab, und Weihnachten war ein wenig Himmel auf Erden. Dazu gehörten Maria und Josef mit dem Jesuskind und Ochs und Esel. Und Jesus war Gottes Sohn, obwohl die meisten Erwachsenen nicht daran gezweifelt haben dürften, dass Josef der Vater war. Weihnachten wurde von den Christen und von uns getauften und konfirmierten Heiden inbrünstig zelebriert. Hätte ich meine Mutter gefragt, wieso man von der Jungfrau Maria spricht, hätte sie wahrscheinlich geantwortet: Das sagt man eben so. Es wurde nicht hinterfragt.
War das Erzgebirge Ihrer Kindheit eine gläubige Landschaft?
Kunze: Für die wirklich Gläubigen war Weihnachten die Menschwerdung Gottes, das Fest der Feste. Für viele aber war es entweder eine schöne Legende, ein Märchen oder ein alle verbindender Anlass zu feiern, zu hoffen.
Diese Legende fand ihr Personal in den Figuren der Schnitzkunst.
Kunze: Wenn Sie von den Weihnachtsfiguren sprechen, dann gehörten bei uns der Bergmann und der Engel immer dazu. Aber der Engel war keine wirkliche Inkarnation des Glaubens mehr, auch nicht bei vielen armen Leuten, zu denen wir ja gehörten.
Bergmann und Engel - was bedeuteten diese Figuren?
Kunze: Der Engel Schutz und der Bergmann derjenige, der stets gefährdet ist. Einmal nachts habe ich meinen Vater mit dem Bauch auf dem Bett liegen sehen, der ganze Rücken war eine einzige Bläschen bildende, Blut absondernde Wunde. Da war der Berg niedergegangen, das hängende Gestein. Der Engel hatte ihm geholfen, zumindest insofern, als er überlebt hatte. Und der Bergmann war das Symbol seiner selbst.
Was hieß es, Bergmann zu sein?
Kunze: Ich bin wer! Wer Bergmann ist, der ist wer. Er war es auch über Tage. Ich habe in keiner Gegend wieder einen solchen Zusammenhalt erlebt, wie ihn die Bergleute gepflegt haben. Unter Tage war jeder auf jeden angewiesen, und dieses Gefühl bestimmte auch das Zusammenleben über der Erde. Die Bergleute waren ausgesprochen gastfreundlich. Meine Eltern waren für mich der Inbegriff der Gastfreundlichkeit - nicht nur ihresgleichen gegenüber. Auch wenn sie selbst nur wenig hatten - wenn ein Gast kam, wurde aufgetischt.
Hatten Sie als Kind den Wunsch, Bergmann zu werden?
Kunze: Nein.
Das wünschte man sich nicht?
Kunze: Ich habe es mir nie gewünscht, denn ich hatte andere Interessen. Abgesehen davon war es aber auch beklemmend, wenn ich meinen Vater manchmal vom Schacht abholte und die schwarzen Gesichter mit den weißen Augäpfeln sah.
Hat Sie diese Landschaft geprägt?
Kunze: Ich denke, jede Kindheitslandschaft prägt.
Worin besteht die Prägung?
Kunze: Ich bin am Fuße von Halden aufgewachsen. Die Halde des Oelsnitzer Deutschland-Schachtes war hundert Meter hoch, nur schwarzes taubes Gestein. In schwindelnder Höhe kippten die Loren das Gestein ab, und tief unten lag der Schlammteich, in den das Wasser floss, das mit dem Gestein aus dem Schacht kam. Gegen Kriegsende und danach stiegen wir, meine Mutter und ich - ich war damals zwölf, dreizehn Jahre alt -, mit einem Sack dort hinauf und haben "Kohle gelesen", um sie bei Bauern gegen Kartoffeln oder Kohlrüben einzutauschen. Das war nicht nur eine Schinderei, sondern auch gefährlich, denn man hätte mitgerissen werden können. Im Schlammteich sind Menschen umgekommen. Mit uns waren viele hundert dort oben. Oelsnitz war nach allen Seiten von solchen Halden umgeben. Das prägt.
Wie gehen Sie heute durch diese Landschaft, aus der der Bergbau ja verschwunden ist?
Kunze: Ich sehe eben auch das Verschwundene.
Woran vor allem erinnern Sie sich, wenn Sie an das Weihnachtsfest Ihrer Kindheit denken?
Kunze: Meinem Vater war alles Schöngeistige eine fremde Welt. Nicht eine Welt, die er abgelehnt hätte, sondern eine Welt, die für ihn nicht existierte. Im Schmücken des Weihnachtsbaumes schien er jedoch jedes Jahr von neuem sein Schönheitsbedürfnis zu stillen.
Wie sah das aus?
Kunze: Der Baum wurde nur mit Silberfäden geschmückt, wobei mein Vater nicht nur eine unglaubliche Geduld, sondern auch einen untrüglichen Geschmack offenbarte.
Wie lange dauerte das Schmücken?
Kunze: Volle zwei Tage. Silberfaden wurde neben Silberfaden gehängt, so eng wie möglich - Ast für Ast, Zweig für Zweig. Es waren Hunderte von Silberfäden, die - denn wir waren arm - nach Hohneujahr wieder einzeln abgenommen und aufbewahrt wurden. Auf die Zweige wurde - wenn möglich glitzernde - Watte gelegt, und dann kamen zwölf weiße Kerzen auf den Baum. Als Farben wurden nur Silber, Weiß und Grün geduldet. Nachbarn und Bekannte kamen, 'n Kunze Ernst san Baam angucken.
Der Baum als Kunstwerk.
Kunze: Der Baum starrte vor Silber.
Und Sie haben beim Schmücken geholfen?
Kunze: Ich? Ich bin geflohen, denn das war ja schrecklich langweilig!
Hat Ihr Vater geschwiegen in diesen zwei Tagen?
Kunze: Mein Vater war von Haus aus schweigsam. Ich war zum Schmücken aber gar nicht zugelassen, anfangs war ich noch zu klein, später hätte ich den Ansprüchen meines Vaters nie und nimmer genügen können.
Zudem stand der Baum im Weihnachtszimmer.
Kunze: Wissen Sie, wir hatten nur eine einzige Stube, in einer Dachschräge standen die Betten. Zumindest bis zu meinem zehnten Lebensjahr.
Z-TITEL: "Da oben war einer, den hatte man zu fürchten oder auf den konnte man bauen."
Besuchten Sie den Heilig-Abend-Gottesdienst?
Kunze: Nie. Ich habe zwar als Kind im Kirchenchor gesungen, aber außer zur Konfirmation sind wir nie in die Kirche gegangen. Auch meinen Großvater, den ich oft die Bibel lesen sah, habe ich nie in die Kirche gehen sehen. Wenn wir spazierengegangen sind und er mir erzählt hat, hat er oft nach oben gewiesen, denn da oben war einer, den hatte man zu fürchten oder auf den konnte man bauen. Mein Großvater hat mich aber niemals dezidiert religiös unterwiesen.
Aber er war ein gläubiger Mensch.
Kunze: Ja.
Von Ihren Eltern wurden Sie ebenfalls nicht "festgelegt"?
Kunze: Wenn wir es vom heutigen Stand der naturwissenschaftlichen Erkenntnis betrachten, waren sie instinktiv oder unbewusst weise.
Inwiefern?
Kunze: Heute nähern sich Naturwissenschaft und Fundamentaltheologie einander an, sie sprechen nur - wie es der Physiker Hans-Peter Dürr formuliert - eine unterschiedliche Sprache. Die Wissenschaft ist so weit vorgestoßen, dass sie erkannt hat, dass jede Wahrheit auch eine "offene Wahrheit" ist. Die kleinsten Teile der Materie sind keine Materie mehr.
Inkarnation sei, so Dürr, Materialisierung von etwas, das im Grunde nicht Materie war. Im religiös determinierten bildlichen Denken heißt das: Et incarnatus est de Spiritu Sancto ex Maria Virgine... Und er ist Fleisch geworden durch den Heiligen Geist aus der Jungfrau Maria.
Ihre Mutter hätte gesagt: Das ist eben so. So haben die Menschen damals Sicherheit gefunden in einem Nicht-weiter-wissen-wollen?
Kunze: Sagen wir in einer Nicht-Verzweiflung.
Gab es in Ihrer Kindheit ein Erlebnis, das Ihr religiöses Empfinden besonders tief beeinflusst hat - so oder so?
Kunze: Ein furchtbares. Ich war vier, fünf Jahre alt und konnte nicht lesen. In unserem Haus, einem Arbeitermietshaus, wohnte eine Bergmannswitwe mit ihren zwei erwachsenen Töchtern. Eine von ihnen, die Heiser Erna, gab mir ein Buch, in dem alle Qualen der Hölle abgebildet waren.
Zur Abschreckung?
Kunze: Ja. Gott sieht jeden in jedem Augenblick! Wer lügt und nicht gehorcht, der kommt in die Hölle! Meine Angst hat wochenlang gelodert wie das Feuer unter den Kesseln, in denen die Menschen gesotten wurden. Eines Morgens, das ist mir noch tief in Erinnerung, kam die Erlösung mit dem Gedanken: Das gibt es doch gar nicht! Und in diesem Augenblick verließen mich mit dem Teufel auch die Engel.
Trotzdem blieb Ihnen die christliche Kulturwelt erhalten.
Kunze: Die christlich-abendländische Welt hat mich geprägt, und ihre Werte sind unveräußerliche Menschheitswerte.
Darf man Sie heute doch als einen religiösen Menschen bezeichnen?
Kunze: Als Menschen können wir die Welt nur begrenzt erfahren, und außerdem hat jeder noch seine eigenen Vorstellungsgrenzen. Ich kann mir zum Beispiel nichts vorstellen, was keinen Anfang und kein Ende hat. So kann es aber nicht sein. Was ist dahinter, wo das letzte Wahrnehmbare endet? Nennen Sie das religiös oder areligiös - ich halte mich da heraus.