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Geburtstag Geburtstag: Er denkt ständig an seinen Hundertsten

Von Christian Eger 26.12.2005, 17:38

Halle/MZ. - Als Filmschauspieler aber hat derWahlberliner die älteren Rechte.

Seinen ersten Auftritt absolvierte der imostpreußischen Bartenstein geborene Flickschustersohn1919 in dem Großstadtfilm "Das Mädchen ausder Ackerstraße". Eine glücklose Arbeit. DerJungkommunist Geschonneck wurde aus der Crewentfernt, weil er gegen das Abspeisen miteiner Statistenrolle protestierte; der sozialrealistischeFilm selbst hat eine lange Serie von Verbotenhinter sich gebracht.

So erlebte Erwin Geschonneck sein eigentlichesLeinwanddebüt 1931 in Slatan Dudows Proletarierfilm"Kuhle Wampe", nach dem von Bertolt Brechtgemeinsam mit Ernst Ottwalt verfassten Drehbuch.Für den holländischen Kaufmannssohn Heestershingegen gingen erst 1935 die Kameralichteran. Aber dann eben auch nicht mehr aus. Währendder Ufa-Star im NS-Deutschland seine großenErfolge feiert, erleidet Geschonneck den KZ-Terrorin Sachsenhausen, Dachau, Neuengamme, am Endeden Untergang des Häftlings-Schiffes "CapArkona". 1945 ist Geschonneck 40, er hat überlebtund muss neu leben lernen. Brecht ruft ihnan seine Bühne, wo er als Knecht Matti im"Puntila" gefeiert wird. In Defafilmen schreibter fortan Geschichte: unter anderem in "DasKalte Herz" (1950), "Das Beil von Wandsbek"(1951), "Gewissen in Aufruhr" (1961), "Nacktunter Wölfen" (1962), "Jakob, der Lügner"(1971). Den letzten Auftritt absolvierte derdamals 89-Jährige 1995 mit Fred Delmare in"Mattula und Busch" - einem Film nach einerRomanvorlage von Klaus Schlesinger und inder Regie des 1952 geborenen Geschonneck-SohnesMatti.

In das Kollektiv-Gedächtnis hat sich der Jubilarals kunstvoller und charmebolzender Prolet-Poeteingeschrieben, als humoriger Volksschauspielermit Federschnurrbart und Zigarrenmund, derBrecht-Songs so gerne trällert wie Küchenlieder.Eine mit allen in der DDR für solcherart Lebensleistungverfügbaren Orden dekorierte Karriere.

Seit etwa fünf Jahren hat sich Erwin Geschonneckvöllig aus der Öffentlichkeit zurückgezogen.Er lebt im neunten Geschoss eines Plattenbausgegenüber der Berliner Marienkirche. Seit38 Jahren mit seiner 39 Jahre jüngeren, fünftenEhefrau Heike, einer in Gerbstedt bei Eislebengeborenen Lehrerin. "Mein Geschi liest wiedereinmal in den Werken von Karl Marx", teiltsie mit. Zum Geburtstag schenke sie ihremMann, der seine Tage nur noch im Bett verbringt,eine "Leselotte" genannte Buchstütze und einWerk über Wladimir Putin.

Ab und an sehe der Jubilar noch Fernsehenoder DVDs, erzählt Heike Geschonneck der MZ.Ab heute werden die Söhne erwartet, über dreiTage verteilt. Denkt sie bereits an den 100. Geburtstag?"Ich vermeide das", sagt sie, "denn ich binabergläubisch. Aber mein Mann denkt ständigdaran und spricht davon." Er erwarte sichnoch einmal ein großes Fest. "Nun", sagt FrauGeschonneck, "da werde ich ihn dann im Rollstuhlhinfahren müssen. Aber warum nicht?"