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Futurismus Futurismus: Sturzflug durch die Großstadt

Von CHRISTIAN EGER 23.10.2009, 17:38

Halle/MZ. - "Wir hatten die ganze Nacht gewacht unter Moscheelampen mit durchbohrten Messingkuppeln, bestirnt wie unsere Seelen, da sie wie diese vom matten Glanze eines elektrischen Herzens durchschienen waren."

Was der studierte Jurist Marinetti notiert, ist nicht etwa ein Aufguss von Tausenduneiner Nacht, sondern die Einleitung zu einem Manifest, das in elf Punkten das Poetische der Zuständigkeit konventioneller Poeten entreißen will. Elf Punkte, elf Fanfarenstöße, die bis heute durch die Kunstgeschichte hallen. Am 20. Februar 1909 erscheint das "Futuristische Manifest" in der französischen Tageszeitung "Le Figaro". Um eine nicht sittlich, aber ästhetisch verbesserte Welt geht es den Zukünftlern. Um die Feier der Großstadt, der Technik und der Gewalt als Ausdruck von Kraft und Lebendigkeit.

Wir preisen die Ohrfeige

Sätze, die man nicht leise vortragen kann: "Wir wollen preisen die angriffslustige Bewegung, die fiebrige Schlaflosigkeit, den Laufschritt, den Salto mortale, die Ohrfeige und den Faustschlag." Und: "Wir wollen den Mann besingen, der das Steuer hält, dessen Idealachse die Erde durchquert." Oder: "Wir wollen den Krieg verherrlichen - diese einzige Hygiene der Welt..." Schließlich: "Wir wollen die Museen, die Bibliotheken und Akademien jeder Art zerstören und gegen den Moralismus, Feminismus und jede Feigheit kämpfen"."

Es gab um 1910 auch tatsächlich Anlässe für eine Kulturrevolution: Die Kunst war akademisch entschlafen, Italiens Wirtschaft lahmte, allein der Kult um Antike und Renaissance hielt die Touristen auf Trab - die vergangenen Zeiten also, die "Tempi passati". Den Begriff des "Passatismus", dem Marinettis Club den Kulturkampf erklärt hat, findet man im Berliner Gropius-Bau denn auch an vielen Stellen.

"Sprachen des Futurismus" heißt die aus Anlass des 100. Jahrestages der Gründung der Kulturaktion veranstaltete Ausstellung, die Marinettis Vorstoß als einen Zugriff auf die ganze, nicht etwa nur bildkünstlerische oder literarische Welt vorführt. Nicht weniger als die "futuristische Rekonstruktion des Universums" war versprochen. Und nicht weniger als das bietet die aus dem größten italienischen Futuristenarchiv bestückte Schau, in dem sie die Bewegung auf den Feldern von Literatur und Skulptur, Musik und Theater, Tanz und Fotografie vorführt. In Berlin übrigens am richtigen Ort: Hier zeigte Herwarth Walden in seiner Galerie "Der Sturm" 1912 die erste Futuristen-Ausstellung in Deutschland. Wer an der Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts ein lebendiges Interesse hat, wird an dieser Schau nicht vorbeikommen, die jene antibürgerliche Avantgarde zeigt, der die Dadaisten, Kubisten und Surrealisten folgen sollten.

Flower Power in XXL

Mit dem literarischen Futurismus beginnt der Schaulauf: Das von der Syntax und Silbenfolge "befreite Wort" wird gepinselt, gezeichnet, geklebt, das neue Welt- im neuen Druckbild auf Bücherseiten und Plakaten präsentiert. Die Musik überrascht mit dem Nachbau von koffergroßen, mit schwarzen Trichtern bestückten "Geräuschtönern", die den Klang der Großstadt aushusten. Das futuristische Theater fesselt mit grellen Farben und Formen. Fortunato Deperos "Magische Flora" von 1917 ist als Nachbau zu sehen: Flower Power in XXL. Die Malerei vereint Figur und Ambiente: Technisches in technischer Lineatur, Geschwindigkeit im Flirren der Segmente. Die Lieblingsfigur der Futuristen ist der Flieger, der sich in die Großstadt "einschneist".

Als Marinetti den Futurismus erfand, gab es weder eine kommunistische noch eine faschistische Bewegung. Mit beiden Parteiungen aber sollte es später geistige Schnittmengen geben. Marinetti selbst lief erfolgreich den Faschisten nach, bei den Nationalsozialisten sollte das nicht gelingen. Der Flieger Göring und der Propagandist Goebbels zeigten sich fasziniert, Hitler aber galten die Tempobilder als "entartet" - ein Mann der "Tempi passati". Die 1934 in Berlin gezeigte italienische Schau "Futuristische Luft- und Flugzeugmalerei" blieb so auf Jahrzehnte der letzte Futuristen-Aufritt in Deutschland. Mit dem Tod ihres Gründers fand die futuristische Kulturkampfaktion 1944 ihr Ende.

Martin-Gropius-Bau, Niederkirchnerstraße 7, bis 11. Januar. Mi-Mo 10-20 Uhr. Katalog Jovis Verlag, 304 S., 22, geb. 32 Euro.