Friedrich Schiller Friedrich Schiller: «Der Schädel ist unächt!»
Weimar/MZ. - Für Hellmut Seemann hat sich der Fall erledigt: "Das ist nicht unsere Aufgabe", sagte der Präsident der Klassik-Stiftung Weimar am Montag zur weiteren Fahndung nach dem Schädel von Friedrich Schiller. "Wir werden nicht in europäischen Schädelsammlungen nach ihm suchen." Ob ihm freilich die Partner seiner mehr als zweijährigen Recherche zum "Friedrich-Schiller-Code" in der Einschätzung folgen, dass ihr nun veröffentlichtes Ergebnis endgültig sei, darf bezweifelt werden. Bereits bei der Pressekonferenz legte der Historiker Ralf Jahn, der als Genealoge an dem Projekt beteiligt war, eine neue Spur.
Und die führt unter anderem in die Universität Halle, die spätestens seit der Mitte des 18. Jahrhunderts ein führendes anatomisches Institut besaß. Hier praktizierte zeitweise auch der Arzt Ludwig Friedrich von Froriep (1770-1847), der seit seiner Heirat mit der Tochter des Weimarer Verlegers Friedrich Justin Bertuch familiären Kontakt zur Klassiker-Elite pflegte - und 1816 in die thüringische Stadt übersiedelte. Zehn Jahre später diente er dem ersten Schädel-Sucher Carl Leberecht Schwabe als Gutachter bei der Identifikation der Knochen aus dem Kassengewölbe. Da er selbst ein eifriger Knochensammler war, der bereits 1811 mehr als 1 500 Exponate sein eigen nannte, könnte er den prominenten Schädel beiseite geschafft haben.
Vielleicht handelte er - so Jahn - dabei gar im Auftrag eines prominenten Zeitgenossen. Franz Joseph Gall (1758-1828), der mit der von ihm begründeten Phrenologie die Eigenschaften eines Menschen anhand der Schädelform bestimmen wollte und auch bei seinem Besuch in Weimar eine wahre Mode des gegenseitigen Kopfabtastens auslöste, war ein Sammler prominenter Schaustücke - und flehte Zeitgenossen an, als Erbe ihrer Schädel eingesetzt zu werden. Falls er seinen Freund Froriep zum Austausch der Reliquie verleitet hätte, sagt Jahn im Magazin "Der Spiegel", so hätte dieser dafür "Zeit, Motiv, Gelegenheit und Kompetenz gehabt".
Eine weitere Spur, die nach Halle weist, verknüpft sich mit dem Namen des Anatomen Hermann Welcker (1822-1897), der 1883 die erste fundierte Kritik an Schwabes Schiller-Schädel übte - und dafür vor allem Vergleiche zwischen den Totenmasken und dem Knochen anstellte. Dabei stellte er fest, dass sich weder Größe noch Proportionen und Asymmetrien vereinen ließen. Die Folgerung "Der Schädel ist unächt!" fand nur bei einem Kollegen namens Schaaffhausen Widerspruch - sowie bei vielen jener Laien, die sich seit Goethes Tagen an der Expertendebatte beteiligten. 80 Jahre später sollte Welcker dann zum Kronzeugen für seinen halleschen Nachfolger Joachim-Hermann Scharf werden, der auf einer Leopoldina-Tagung 1964 der Identifizierung durch den sowjetischen Anthropologen Michail Gerassimow und seinen Ostberliner Kollegen Herbert Ullrich widersprach.
Sein ebenso simples wie schlagendes Argument, auf das jetzt der hallesche Goethe-Liebhaber Klaus Andrä hinwies: Offenbar sei ihnen "entgangen, dass Schiller ,nur' die Hutweite 54 benötigte, wie sein Wetterhut im Marbacher Museum zeigt. Der Schädel in der Fürstengruft hat ohne Weichteile einen Umfang von 55,5 cm, was etwa einer Hutweite von 57,5 entspricht. Schillers Hut paßt also nicht einmal auf ,seinen' macerierten Schädel!" Mit derselben Methode hatte im übrigen schon der Entdecker des zweiten, nun auch als falsch entlarvten Schädels argumentiert.
Dieser August von Froriep (1849-1917), ein Enkel des Gall-Mitstreiters, ließ sich von Welckers Zweifeln zur abermaligen Ausgrabung der Skelette aus dem Kassengewölbe anstiften. Der von ihm als Schillers sterblicher Überrest erkannte Schädel wurde im Zuge der Recherchen von MDR und Klassik-Stiftung nun als Relikt der Hofdame Luise von Göchhausen identifiziert. Dass die bucklige, von Goethe als "Gnomide" geneckte Frau den Platz des hochgewachsenen Schiller eingenommen hatte, wirkt wie ein historischer Witz - zumal dieser die Dame nicht leiden konnte.
Das Problem an dieser Pointe ist nur, dass sie längst bekannt war. Bereits unmittelbar nach der Publikation von Frorieps Funden hatte sich ein Anatom namens Neuhauss zu Wort gemeldet und die Göchhausen identifiziert. Diese (auch von den MDR-Experten nur mit Hilfe einer Gesichtsrekonstruktion gestützte) These wollte der Hallenser Scharf später zwar nicht glauben. Immerhin aber überlieferte er eine These, wem denn der erstgeborgene Schädel à la Schiller gehöre: dem Weimarer Bürgermeister Carl Christian August Paulssen!
Und weiter? Nach Ansicht des Historikers Jahn würde sich eine neuerliche Suche lohnen: "Man könnte durchaus mal in einer der Schädelsammlungen in Tübingen, Berlin oder Halle nachschauen", sagte er.
Vielleicht aber wendet man auch einfach die Methode an, die von der Gemeinde Gerlingen an Johann Caspar Schiller erprobt wurde. Als Zweifel an der Lage seiner Grabstätte aufkamen, ergänzten die sparsamen Schwaben die Gedenktafel "Hier ruht Schillers Vater" durch das Wörtchen "nicht".