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Filmporträt Filmporträt: Unter der festen Wolke ein Leck

Von christian eger 11.12.2011, 17:59

halle/MZ. - Neun Jahre alt war Thomas Brasch, als er 1954 mit seiner Mutter den Schiffbauerdamm in Ostberlin entlangspazierte. Berliner Ensemble, Bahnhof Friedrichstraße, die Gründerzeitfassaden am Ufer der Spree. "Dort will ich wohnen, wenn ich mal erwachsen bin", habe Brasch seiner Mutter gesagt, spricht der Dichter mehr als 40 Jahre darauf dem Dokumentarfilmer Christoph Rüter in die Kamera. Dort habe er leben wollen: mittendrin am Rand. "Dort, wo die Stadt ein stilles Auge hat."

Wer bleibt warum wo

Ende der 90er Jahre sollte es ihm gelingen. Brasch, der 1976 von Ost- nach Westberlin ausgereist war, kehrt in der Gegenrichtung zurück. Die DDR ist verschwunden und damit das Publikumsinteresse am Lebenskonflikt des 2001 im Alter von 56 Jahren gestorbenen Dichters, Erzählers und Filmemachers, der einer der wichtigsten ostdeutschen Schriftsteller war. Vielleicht der wichtigste "DDR-Schriftsteller" überhaupt. Denn wer die sozialpsychologische Ausnahmesituation begreifen will, die die DDR ja war, der wird zu den Texten des Spitzenfunktionärssohnes greifen, der diese Situation an sich selbst beispielhaft durchlitt. Er ist der Gegenautor zur staatsfrommen, brachial naiven Massen-Literatur - auch der gehobenen Art.

Braschs 1977 veröffentlichter Erzählband "Vor den Vätern sterben die Söhne" schrieb Literaturgeschichte. Sein Lyrikband "Der schöne 27. September" (1980) gehört zu den besten Büchern überhaupt, die aus der an Gedichtbänden überreichen Ost-Szene hervorgegangen sind: "Wer geht wohin weg / Wer bleibt warum wo / Unter der festen Wolke ein Leck / Alexanderplatz und Bahnhof Zoo..."

Christoph Rüter zeigt den späten Brasch "unter dem Leck" am Bahnhof Friedrichstraße. Nach ein paar wackligen, von Brasch selbst aufgenommenen Eingangsbildern, die der gar nicht mehr Junge Wilde in einem Ostberliner Hotelzimmer gemacht hat, öffnet sich seine Wohnung am Schiffbauerdamm. Eine auf den ersten Blick endlose Raumflucht. Wir sehen Brasch, wie er die erste Monatsmiete hinblättert: 2 700 Deutsche Mark! Eine Summe, die man nicht zahlen dürfte, wie er sagt. Aber Brasch zahlt. Wovon, erfährt der Zuschauer nicht, der einen essayistischen, keinen journalistischen Film erlebt.

Vogel im Lichtschacht

Er sieht aber, wie der Neumieter durch die Wohnung fremdelt. Wie er auf den Grund eines Lichtschachts klettert, wo er auf Kieseln hockt wie ein gefangenes Vögelchen, und sagt, dass das der schönste Raum der Wohnung sei. Der Rückzug im Rückzug, den macht Rüter sichtbar. Den Dichter, der sich im Prosastoff des Mädchenmörders Brunke vergräbt. Wir sehen Dokumentaraufnahmen wie die denkwürdige Dankrede Thomas Braschs zur Entgegennahme des Bayerischen Filmpreises 1982: "Ich danke der Filmhochschule der DDR für meine Ausbildung..." Da buht der Saal. Franz Josef Strauß vibriert. Ausschnitte folgen aus Brasch-Filmen, Interviews, Sätze wie: "Schreiben heißt für mich, öffentlich Angst zu überwinden." Wünschen und Fürchten zu teilen.

"Wer durch mein Zimmer will, muß durch mein Leben", heißt der 2002 veröffentlichte letzte Gedichtband Braschs. Rüter macht dieses Durchs-Zimmer-Gehen zum Programm seines rücksichtsvoll schonungslosen Films. Jeder, für den Thomas Brasch irgendwann einmal eine Bedeutung hatte, wird mit Interesse durch diesen Film gehen. Durch das eigene Zimmer.

"Brasch - Das Wünschen und das Fürchten": Lux Kino am Zoo in Halle, Seebener Straße 173: am15. und 17.12. um 22.30 Uhr, am 18.12. um 16 Uhr, am 21.12. um 18 Uhr. Filmlänge 92 Minuten.