Film Film: Immer David gegen Goliath
LEIPZIG/MZ. - Die Schauspielerkarriere zum Beispiel. Das familiäre Glück. Nichts davon war selbstverständlich für den 1,60-Meter-kleinen Schreinersohn aus dem südthüringischen Hüttensteinach, alles erstritten, auch unter Verlusten. Das Lebenscredo des Mannes, der ein Stehaufmännchen war: "Das Glück führt man herbei, das Unglück steht man durch." Von beidem hatte Fred Delmare mehr als genug. Mehr jedenfalls, als man meint, gewöhnlich durchstehen zu können.
Neben der glanzvollen Linie der Popularität, auf der dieser tatsächlich humorige Volksschauspieler aus dem Film- und Fernseh-Ensemble der DDR von Mitte der 50er Jahre an voranlief, zog immer eine Spur des Unglücks mit. Alles das ist in seinen furchtbaren Ausmaßen erst nach 1989 für die Außenwelt sichtbar geworden. Delmares Tochter Felicitas flüchtete Anfang der 80er Jahre in den Westen und nahm sich dort das Leben. Sohn Nici war 20, als er in der Nacht von Vaters 71. Geburtstag seine Freundin erstach und für neun Jahre ins Gefängnis kam. Delmares fünfte Ehefrau Renate erkrankte an Krebs. Dieselbe Krankheit kostete den ältesten Sohn Tino das Leben. "Ich weiß jedenfalls, wie man Leid spielt", sagte Fred Delmare im Blick auf die privaten Katastrophen. Spielen konnte er mehr als das.
Zur Bühne zog es den gelernten Werkzeugschlosser immer, aber die Bühne zog nicht an ihm. Bereits sein bürgerlicher Name: Werner Vorndran! Nicht plakattauglich, im besten Fall ein Lacher. Vorndran! Wer so heißt, muss nicht auf sechs Zentimeter hohen Plateausohlen über die Bühne laufen. Der Allerkleinste aber will für mehr als nur das Weihnachtsmärchen taugen.
Nach dem Einsatz als Marine-Kriegsfreiwilliger in Bremerhaven, der ihm eine Bauchschussverletzung eintrug, nach langen Spital-Aufenthalten, absolvierte Delmare nach dem Krieg als Fernschüler die Schauspielschule des Hebbel-Theaters in Berlin. 1950 zog er ans Leipziger Schauspiel, dem er bis 1970 angehörte. Er, den seine Freunde "Axel" nannten, weil so ein "Kurzer" heißen müsse, trug längst den Künstlernamen Fred Delmare. Nach Welt klang das und Weite.
Vom Jahr 1956 an ging es für den Wahlsachsen, der in Taucha bei Leipzig lebte, Film auf Film voran. Im Defa-Streifen "Der Teufelskreis" spielte er den Reichstagsbrandstifter van der Lubbe. In "Nackt unter Wölfen" (1963) den Häftling Pippig. In "Die Legende von Paul und Paula" (1973) den "Reifen-Saft". Mehr als 200 Film- und Fernsehrollen insgesamt, bis zum letzten Auftritt 2005 in der ARD-Arztserie "In aller Freundschaft". Das Defa-Kino ist ohne den Mann mit der - nach einer glücklosen Halsoperation - leicht kratzigen, glanzlosen Stimme nicht zu denken. Als "König der Nebenrollen" gilt er, nicht zu Unrecht. Aber doch nur mit dem Zusatz, dass er diese Neben- mit einer Hauptrollenpräsenz füllte. Auch das war für ihn vor allem Arbeit. "Ich hatte immer Angst, die erwartete Qualität nicht bieten zu können", sagte Delmare 2002. Und: "Wer klein ist, muss doppelt hart arbeiten." Was er spielte, lebte er also auch. Eigentlich immer: David gegen Goliath.
Den Privatmann Delmare konnte man zuverlässig im Ostseebad Binz antreffen, hier verbrachte er seine Sommer. Bis zur Alzheimer-Diagnose: 2006 wurde der Künstler, der bis zum Schluss Kraftsport betrieb, in ein Leipziger Pflegeheim gebracht. In dem Maße, in dem öffentlich das Defa-Kino als Kunst neuentdeckt wurde, verschwand Delmare aus dem Blickfeld. Aber er war noch da, bis zum ersten Mai. An diesem sonnigen Tag starb Fred Delmare im Alter von 87 Jahren.