«Faust I» im Nationaltheater Weimar «Faust I» im Nationaltheater Weimar: Der Denker strampelt im Laufrad der Bücher
Weimar/MZ. - Da sitzt er wieder, eingeklemmt in seinem Bücher-Laufrad, um Luft ringend und nach Worten schnappend: "Habe nun, ach . . ." Man möchte mit ihm seufzen, weil alles von vorn beginnt: Die Wette und die Reise, dann Gretchen und am Ende der Kerker, aus dem man nur in den Schlussapplaus entkommt. "Faust I" und Weimar, das ist - nicht erst seit Michael Gruners verunglückter Inszenierung im Goethe-Jahr 1999- eher eine erkaltete Ehe als eine glühende Liebe. Da helfen wohl nur noch Aphrodisiaka - und die wollte der neue Intendant Stephan Märki nun ausgerechnet aus Schweiß und Tränen des Brachial-Schauspielers Thomas Thieme keltern.
Dass Thieme vielleicht keine Ideal-, aber mit Sicherheit eine Radikalbesetzung sein würde, war vorher klar. Dass man ihm allerdings auch hinter den Kulissen die Freiheit einräumte, die er sich in jeder Rolle auf der Bühne erkämpft, sollte sich als fatale Entscheidung erweisen. Denn da der Star mit Stallgeruch auch die Wahl des Regie-Duos Julia von Sell und Karsten Wiegand entscheidend beeinflusste, fehlte ihm diesmal der nötige Widerstand.
Dabei hatte alles so hübsch begonnen. Der Opernchor des Nationaltheaters sprach im Parkett die Zueignung, das Theater-Team lieferte sich ein Vorspiel auf den Rängen und der Herr säbelte mit seinen Engeln Luftlöcher in den Himmel - ein Abend in Dolby Surround, schmerzfrei und schön, schien verabredet. Doch schon als sich der Titelheld über seine Lese- und Betbank krümmte und mit manischem Rhythmus eine Kreideschleife auf den Bühnenboden malte, wirkte er irgendwie alleingelassen. Und das änderte sich auch nicht, als sich wenig später ein Rabe (!) in einen spillerigen Spaß-Teufel verwandelte.
Schluss mit lustig - Der neue "Faust" am Weimarer Theater hat sich nicht durch seine immerhin bedenkenswerte Grundierung mit Volks- und anderen Liedern sowie durch die Übertragung der musikalischen Gestaltungsprinzipien auf Goethes Text gerechtfertigt.
Was erzählt es schließlich, wenn Faust die Gretchenfrage stammelnd beantwortet und seine Geliebte umgekehrt ihren Kerker-Monolog verstottert? Nichts, was nicht bereits im Urtext besser formuliert wäre. Und warum muss Mephisto den Schüler mit Hilfe von Pink Floyds "We don't need no education" vom rechten Weg abbringen, ehe Faust kurz vor dem Finale auch noch Stefan Remmlers "Vogel der Nacht" ins Publikum röhren darf? Doch nur, um zu entschuldigen, dass zwei Regisseure hinter dem Pult saßen und auf der Bühne dennoch kaum plastische Figuren und glaubhafte Situationen zu entdecken sind. Da wirkt es fast wie eine Illustration des Konzeptes, wenn sich der bullige, brünftige Gelehrte mit Hand und Fuß an den rotierenden Folianten abarbeitet und sein schmalbrüstiger, missmutiger Geselle wenig später als Reißwolf agiert.
Wer nun auf die immanente Brüchigkeit des über Jahrzehnte gewachsenen Entwurfes verweist und die Fassung als überfällige Reinigung vom Pathos verteidigt, übersieht die konventionelle Zeichnung der Hauptfigur. Denn Thieme entdeckt Faust nicht wirklich neu, sondern treibt ihn nur in die Extreme - der Verzweiflung wie der Liebe, der Aktion wie der Agonie. Das ist oft sehenswert - namentlich im Zusammenspiel mit Claudia Meyers Gretchen - aber eben auch ein innerer Widerspruch gegen die äußere Kosmetik, mit der man seine Ideenlosigkeit auf Einfallsreichtum schminkt.
Und da Marek Harloff nur als physischer Kontrapunkt zu Thieme funktioniert, ansonsten aber als stets nörgelnder Neinsager nervt, ist auch die heikle Balance zwischen den Wettpartnern von vornherein obsolet. So stört dann nicht mal mehr der Chordirigent, der aus technischen Gründen immer wieder an die Rampe muss. Konsequent übrigens der Verzicht auf das letzte Wort des Herrn: "Ist gerettet" wäre glatt gelogen gewesen!