Eurovision Song Contest Eurovision Song Contest: Kein Platz für Politik auf der ESC-Musikparty

Köln - Wenn Jon Ola Sand auf den Eurovision Song Contest 2014 zurückblickt, erzählt er nicht vom Triumph der Conchita Wurst. Lieber erinnert der Norweger, der als verantwortlicher Produzent beim ESC seit 2011 das Sagen hat, an zwei Teenager, die nach der Show „am Boden zerstört“ waren. Die Zwillinge Anastasija und Marija Tolmatschowaа hatten für Russland gesungen und waren Siebte geworden. In Tränen aufgelöst waren sie wegen der lautstarken Pfiffe des Publikums in Kopenhagen. Die Unmutsbekundungen galten nicht dem Gesang der damals 17-Jährigen, sondern dem Präsidenten ihres Landes. Zwei Monate vor dem ESC hatte sich Wladimir Putin die Halbinsel Krim einverleibt.
Politisch motivierte Buhrufe in einem ESC-Finale gab es vorher noch nie, und die Veranstalter wollen nicht, dass sich diese „sehr unangenehme Situation“ wiederholt. Vor dem ersten ESC-Halbfinale beschworen die Moderatoren in der Wiener Stadthalle eindringlich den Respekt für „alle Künstler“, unabhängig vom Regime in deren Heimatländern. Damit war ausschließlich Polina Gagarina gemeint, Pfiffe blieben der russischen Sängerin dann auch erspart.
Fernbleiben der Ukraine wird ignoriert
Jon Ola Sand und die European Broadcasting Union (EBU), die Arbeitsgemeinschaft der öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten, hätten nicht nur die Tolmatschow-Schwestern bemitleiden können. Sie hätten darauf hinweisen müssen, dass beim 60. Eurovision Song Contest ein Staat nicht teilnimmt, nicht teilnehmen kann, weil auf einem Teil seines Territoriums ein Krieg tobt. Doch das Fernbleiben der Ukraine wird von den Verantwortlichen nur achselzuckend registriert. Nach dem Motto: Finden wir nicht toll, da kann man aber nichts machen.
Diese resignative Sicht der Dinge hat die EBU nicht exklusiv, wie man an den milde dosierten Wirtschaftssanktionen der Europäischen Union gegen Moskau und an den diplomatisch gewundenen Statements von Frank-Walter Steinmeier zur Ukraine-Krise ablesen kann. Die komplizierten Entscheidungsprozesse in der EBU, der 73 Sender aus 56 Staaten angeschlossen sind, rücken einen Verstoß Russlands aus dem ESC-Zirkus ins Reich der politischen Utopie. Völlig absurd erscheint die Idee aber nicht: Als die Vereinten Nationen 1992 wegen des Bosnien-Kriegs Sanktionen gegen Rest-Jugoslawien verhängten, darunter den Ausschluss von internationalen Sport- und Kulturveranstaltungen, da war das Land fortan auch beim ESC unerwünscht. Die UN geben den Takt vor, der ESC folgt: In dieser Reihenfolge kann es also funktionieren.
Die ESC-Macher wollen verhindern, dass der Wettbewerb sich aufreibt in einem kaum lösbaren Grundsatzstreit zwischen Realpolitik und Wunschdenken. Nichts soll die Musikparty stören, für die der BBC-Kommentator Terry Wogan einst den Begriff „Freakshow“ prägte. Der Wunsch ist legitim, solange die Wurzeln des Eurovision Song Contest nicht in Vergessenheit geraten: Es war im Herbst 1955, nur zehn Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, eine fantastische Idee des Schweizers Marcel Bezencon, den grenzüberschreitenden Ableger des italienischen San-Remo-Musikfestivals zu gründen. Ein friedlicher Wettstreit der Nationen sollte es werden, mit Klingklang statt Kanonen. In Sachen Völkerverständigung hat der ESC viel erreicht.
Kaum ein deutscher ESC-Songtitel wird in diesem Zusammenhang so oft bemüht wie Joy Flemings „Ein Lied kann eine Brücke sein“ von 1975. Die Brücke endete lange Zeit am Eisernen Vorhang. Es ist gut, dass diese Zeiten vorbei sind. Es wäre noch besser, wenn Russlands Beitrag „A Million Voices“ in Wien triumphiert. Vor einem Eurovision Song Contest in Moskau könnte auch Wladimir Putin nicht Augen und Ohren verschließen.