Erwin Jöres Erwin Jöres: Kommunist geht durch die Hölle von Hitler und Stalin
Halle (Saale)/MZ. - Die Bilanz seines politischen Lebens fällt nüchtern aus, der Schmerz, die Angst, der Hunger sind unvergesslich. Und die Verzweiflung auch, gegen die er sich mit aller Kraft gestemmt hat. "Ich habe das alles nur überlebt, weil ich den Willen hatte, das zu durchleben", sagt Erwin Jöris. 100 Jahre alt ist er in diesem Jahr geworden, geboren 1912 wie Erich Honecker. "Ich habe versucht, Lebensmut zu beweisen, auch für die anderen, die das nicht konnten. Nicht mehr konnten."
Auch er selber hat oft geglaubt, am Ende zu sein. Und noch Jahre nach seiner Entlassung aus dem Straflager in Sibirien, der letzten Station der Höllentour, die er unter Hitlers wie unter Stalins Machtapparaten erdulden musste, hat er nachts im Schlaf gebrüllt und um sich geschlagen.
Heute vor 57 Jahren, am 13. Dezember 1955, ist Erwin Jöris in Deutschland angekommen - als einer von jenen letzten Verschleppten, denen auf Drängen des deutschen Bundeskanzlers Konrad Adenauer die Russen die Freiheit gaben. Da war er 43 Jahre alt. Jöris, der Arbeiterjunge aus Berlin-Lichtenberg, der schon als Kind Kommunist gewesen ist, hat später im Westen jahrelang Adenauers CDU gewählt - nicht aus plötzlich gewachsener politischer Überzeugung, sondern aus Dankbarkeit.
Im Osten, wohin man ihn entlassen hatte, ist Jöris nur zwei Tage geblieben, um seine Frau Gerda abzuholen, mit der S-Bahn sind sie nach Westberlin geflohen, mit nichts als ein bisschen Wäsche, dann weiter in die Bundesrepublik. Auffangstationen, Durchgangslager, das ganze, schwere Programm. Bis das Paar in Köln-Deutz ein Zuhause fand und begann, sich ein bisschen Glück zu erarbeiten.
Der Historiker Andreas Petersen, der zuletzt mit Ines Geipel den Band "Black Box DDR. Unerzählte Geschichten unterm SED-Regime" herausgebracht hat, ist Erwin Jöres über fünf Jahre hinweg immer wieder begegnet, 50 Stunden umfassen allein die aufgezeichneten Interviews mit dem Mann, der sich nie abfinden wollte, nicht mit dem Terror der Nazis, nicht mit dem des sowjetischen Geheimdienstapparates. Und dem ein Jahrhundertschicksal aufgebürdet worden ist.
"Deine Schnauze wird dir in Sibirien zufrieren" heißt das reichlich 500 Seiten starke, im Marix-Verlag Wiesbaden erschienene Buch, dessen Erscheinen von der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur unterstützt worden ist. "Deine Schnauze wird dir in Sibirien zufrieren", sagte 1951 ein sowjetischer Vernehmer in Berlin-Karlshorst zu Erwin Jöris, für 25 Jahre schickten ihn die Russen als vermeintlichen Agenten des Westens in die Eiswüste nach Osten.
Jöris hat sich die Zahl kaum vorstellen können: 25 Jahre, ein Vierteljahrhundert. Schwerstarbeit unter Schwerkriminellen, die den Politischen das Leben zusätzlich schwer machten. Dabei war das Maß dessen, was ein Mensch ertragen kann, für Jöris schon mehr als voll: Als jungen Mann sperrten ihn die Nazis ein, erst zur Gestapo im heutigen Gropius-Bau in Berlin. Dann die Festung Spandau, wo später der Kriegsverbrecher Rudolf Hess seine Strafe verbüßt hat. Dann das KZ Sonnenburg.
Nach der Entlassung schickten ihn die Genossen zur Komintern in das berühmt-berüchtigte Moskauer Hotel "Lux", zur kommunistischen Weltzentrale. Und weiter ging es, als Aufbauhelfer in eine Fabrik, pararallel nahmen die stalinistischen Schauprozesse ihren Lauf. Auch Jöris, der die Schnauze eben nicht halten konnte, kam ins Visier der Geheimpolizei, wurde verhaftet, ein Saboteur und faschistischer Agitator sollte er nun sein, schließlich lieferte man ihn nach Deutschland aus. Und wieder Knast, Verhöre, dann Wehrmacht und Kriegsgefangenschaft. Bis ihn, nun DDR-Bürger, schließlich die Staatssicherheit und die Russen erneut verhafteten...
Was dieses Buch so besonders macht, ist nicht die schreckliche Lebensgeschichte allein. Aufregend ist die lakonische, differenzierte Art, in der sich Erwin Jöris erinnert - allein das Kapitel über seinen Lehrmeister, bei dem er zum Tischler ausgebildet wurde, macht staunen: Ein Deutschnationaler, der dem jungen Kommunisten zwar die Hölle heißt machte, ihn aber fair behandelte. Ein Buch, das von der Kraft der Verzweiflung lebt - und allen Ideologen, pardon, in die Fresse schlägt.
Andreas Petersen: "Deine Schnauze wird dir in Sibirien zufrieren. Ein Jahrhundertdiktat", Marix-Verlag Wiesbaden, 520 Seiten, 24,90 Euro