Ernst Tugendhat Ernst Tugendhat: Ein unruhiger Denker und großer Vermittler wird 75

Tübingen/dpa. - Am Dienstag (8.3.) wird Ernst Tugendhat 75 Jahre alt.
«Ich habe meine Meinungen immer wieder geändert», sagt errückblickend. «Das geht mir eigentlich mit allen Fragen so: Ich werdenicht fertig.» Nach seinen Aufsehen erregenden Vorlesungen zurSprachphilosophie befasste sich Tugendhat in den 1980er Jahrenverstärkt mit der praktischen Philosophie. Er kam zu der Überzeugung,dass sich Moral nur vertragstheoretisch begründen lässt, nichtidealistisch aus der Idee der Freiheit oder metaphysisch aus demBegriff des Absoluten. Wichtig wurde ihm der Gedanke der Egalität:«Du sollst jeden gleich achten, niemanden instrumentalisieren.»
Als Kind eines jüdischen Elternhauses hatte Tugendhat erfahren,was es bedeutet, als ungleich zu gelten. Die Familie floh 1938 vorden Nationalsozialisten aus Brünn (heute Brno in der TschechischenRepublik) - zuerst in die Schweiz, später nach Südamerika. Nach demKrieg studierte Tugendhat an der Stanford-Universität in KalifornienKlassische Philologie. Zum Studium der Philosophie Martin Heideggerskam er 1949 nach Europa zurück. Freiburg, Tübingen, Heidelberg, Max-Planck-Institut Starnberg, Freie Universität Berlin - das waren seinewichtigsten Stationen, bis er 1992 wieder nach Südamerika ging, um inSantiago de Chile zu lehren.
Seinen Abschied aus Deutschland verknüpfte er mit kritischenBemerkungen zur Wiedervereinigung (für ihn ein «AnschlussOstdeutschlands») und zum «massiven Rückfall in den Fremdenhass».Auch früher schon hatte sich der Philosophie-Professor immer wiederpolitisch engagiert, etwa in der Friedensbewegung und im Kampf um dasAsylrecht. Dem US-Präsidenten George W. Bush wirft er «eine extremeVerschärfung der partikularistisch-nationalistischen Tradition derAmerikaner» vor; die Steigerung des amerikanischen Reichtums sei Bushwichtiger als das Leben anderer.
Seinen Lebensabend verbringt Tugendhat nun in Tübingen - mitten injener Altstadt, in der Hölderlin, Schelling und Hegel die größteEpoche deutscher Philosophiegeschichte mitbegründet haben. Eine späteRückkehr in den Schoß kontinentaler Metaphysik? Keineswegs. Tugendhathat seine spöttische Skepsis nicht verloren. Dem Deutschen Idealismuswirft er schlicht einen «Mangel an kritischer Vernunft» vor: «Hegelkonnte einfach zu wenig Logik.»